Serbien

Eingeschlossen durch die Mauern von Schengen

Der Tag vor dem deutschen Konsulat in Belgrad beginnt um zwei Uhr morgens. Dann stellen sich die ersten Reisewilligen in eine Warteschlange vor dem fahl-grauen Gebäude, das mit seinen vergitterten Fenstern und der verspiegelten Eingangstür abweisend wirkt. Bis zum frühen Morgen reihen sich Menschen aus ganz Serbien ein, um hier ein Visum für Deutschland zu beantragen. An manchen Tagen stehen 500 Menschen auf dem schmalen Bürgersteig im Belgrader Zentrum – bei Wind und Wetter. Erst gegen Mittag lichtet sich die Schlange.

Trotz der seit Januar geltenden Visaerleichterungen bleibt das Reisen für viele serbische Bürger kostspielig und zeitaufwändig. Sie müssen nicht nur ein Gesundheitszeugnis, eine Einladung und ein Motivationsschreiben abliefern, sondern auch mit Flugtickets, Beschäftigungsnachweisen und einer Reiseversicherung glaubhaft machen, dass ihr Aufenthalt finanziell abgesichert ist. Rentner haben den letzten Rentenbescheid vorzulegen, Studenten ihre Zeugnisse und die Immatrikulationsbescheinigung.


Warten auf ein Visum vor dem deutschen Konsulat in Belgrad / Katrin Lechler, n-ost

„Ich habe ein halbes Kilo Papier dabei“, sagt Goran Nebrigić und lächelt. Eigentlich ist ihm gar nicht nach Lächeln zumute. Der 42-jährige Geschäftsmann aus der nordserbischen Industriestadt Pančevo findet die Prozedur erniedrigend, zumal er bei einer deutschen Firma in Stuttgart beschäftigt ist und nicht als Tourist nach Deutschland kommt. „Früher bin ich am Freitagnachmittag mit dem Auto nach München gefahren und am Sonntagabend zurückgekommen“. Jetzt müsse er sich zwei Tage frei nehmen, um ein Visum zu beantragen und abzuholen. Neben ihm in der Schlange steht die 22-jährige Mersija Tatar. Die junge Frau hat sechs Stunden Fahrt aus der Stadt Novi Pazar im Süden Serbiens hinter sich. Ihre Chancen auf ein Visum sind nicht gut, heißt es unter den erfahreneren Antragstellern, weil sie weder studiert noch arbeitet. „Ich bin auch schon zweimal abgewiesen worden“, bestätigt Igor Ilić, 24. Dem Pressesprecher der deutschen Botschaft in Belgrad, Marko Čadeź, zufolge gehen Ablehnungen von Visumanträgen in den meisten Fällen zwar auf unvollständige Unterlagen zurück. Doch bei den Wartenden bleibt das Gefühl, der bloßen Willkür der Behörden ausgesetzt zu sein.
 
Es ist inzwischen zehn Uhr. Die Sonne fängt langsam an zu brennen. Mersija Tatar, die junge Frau aus Südserbien, wartet schon vier Stunden, meist stehend, denn im Wartebereich gibt es nur eine Sitzbank. Und was, wenn die Fahrt umsonst war? Die Umstehenden lachen bitter: Dann fährt man eben noch einmal. Doch nicht alle Serben können sich das leisten: Bei einem Durchschnittseinkommen von rund 350 Euro im Monat reißt auch die seit Januar 2008 von 60 auf 35 Euro herabgesetzte Visumgebühr ein großes Loch ins Portmonee. Hinzu kommen vier Passfotos, die Reiseversicherung und natürlich die Reisekosten selbst. Wer keine Verwandten im Ausland hat, muss die Formalitäten über eine Reiseagentur abwickeln lassen. Und das scheinen nicht wenige zu sein: Gleich zwölf Versicherungen lassen ihre Vertreter vor dem deutschen Konsulat in Belgrad arbeiten.



Infokasten: Die Europäische Kommission hat Serbien im Mai 2008 in Aussicht gestellt, die Visumpflicht aufzuheben. Dies sei ein „Zeichen für den Willen der gesamten Europäischen Union, die europäische Orientierung Serbiens zu unterstützen“. Die Visumfreiheit wurde am 31. Oktober 1992 für Inhaber jugoslawischer Reisepässe aufgehoben, die von serbischen, montenegrinischen oder mazedonischen Behörden ausgestellt worden waren. Dies galt nicht für Bürger der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien, die weiterhin ohne Visum in Europa reisen dürfen.


Angesichts dieser finanziellen und bürokratischen Hürden verzichten viele Serben lieber gleich auf eine Reise ins europäische Ausland. Über 80 Prozent haben nicht einmal einen Reisepass. Besonders junge und mobile Menschen sind von den strengen Visavorschriften betroffen, die infolge der Balkankriege zu Beginn der 90er Jahre eingeführt worden waren. Bei einer Untersuchung der serbischen Studentenvereinigung vor drei Jahren kam heraus, dass 80 Prozent von ihnen noch nie im Ausland waren. Schlimmer noch: Die meisten Studierenden fühlten sich laut der Umfrage Europa nicht zugehörig und vertraten die Ansicht, dass sie in Europa nicht willkommen sind.

Seitdem sind einige studentische Austauschprogramme initiiert worden. Dazu gehört „Reisen nach Europa“ und „Willkommen in Deutschland“ bei dem junge Serben und Serbinnen, ausgerüstet mit Visa und Taschengeld, Seminare in Deutschland und Österreich besuchen und per InterRail Europa kennen lernen. „Die meisten sind sehr beeindruckt von diesen Fahrten“, sagt Maja Bobić, Generalsekretärin der Nichtregierungsorganisation „Europäische Bewegung für Serbien“, die die Programme koordiniert. „Sie erleben den Alltag in Europa, sie lernen junge Menschen aus anderen Ländern kennen, hören verschiedene Sprachen und wollen auch an der Freiheit, die sie dort spüren, teilhaben.“ Diese Fahrten seien für die Demokratisierung und Europäisierung von Serbien wichtiger als jede Univorlesung, so Bobić.

600 Studierende konnten auf diese Weise den Binnenstaat auf dem Balkan verlassen und den Duft von Europa schnuppern. Beworben hatten sich viermal so viele. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit scheint es vor der deutschen Botschaft zu geben: „Ich würde meine Kinder und Enkelkinder viel häufiger besuchen, wenn es nicht so umständlich wäre“, sagt eine Frau um die 60 und seufzt. Die Zahl der Visumanträge ist trotz der hohen Hürden in den vergangenen Jahren leicht angestiegen: rund 60.000 gingen im vergangenen Jahr allein für Deutschland ein, in der griechischen Botschaft waren es sogar 300.000. Das zeigt, wie stark der Wunsch der Serben ist, endlich in Europa anzukommen – nicht nur politisch.


Weitere Artikel