Gegen jede Vernunft: von West nach Ost
„Ein bisschen Abenteuerlust war schon dabei”, blickt Nico-Alexander Jahn zurück und stochert in seinem Schopska-Salat, dem bulgarischen Nationalgericht mit Tomaten, Gurken und geraspeltem Schafskäse. Drei Jahre ist es her, dass er Deutschland den Rücken gekehrt und bei einem PR-Unternehmen in Sofia angeheuert hat, in der Niederlassung einer internationalen Agentur zwar, aber mit einem bulgarischen Gehalt von etwas mehr als 1.000 Euro im Monat – ein Bruchteil dessen, was in Deutschland für ihn zu holen gewesen wäre. Seine Freunde und Kollegen schüttelten den Kopf.
Ob er sich damit nicht ins Abseits begebe? Das Gegenteil war der Fall: Als einziger Ausländer in einer Agentur mit 140 Beschäftigen fiel er auf, sein Chef hatte immer ein offenes Ohr für ihn, und auch in der Zentrale in Paris sprach sich schnell herum, dass es da einen seltsamen Deutschen in Sofia gibt, der einfach mal den umgekehrten Weg gegangen ist: von West nach Ost, scheinbar gegen jede Vernunft.
Enrico Repouz (li.), Nico-Alexander Jahn / Dirk Auer, n-ost
Den „Freak-Faktor” nennt Nico-Alexander Jahn das Phänomen, das ihm, egal wohin er kam, zumindest Aufmerksamkeit und offene Türen sicherte. „Deinen Worten wird ganz anders Gehör geschenkt, man fühlt sich frei, Ideen zu äußern. Und auf einmal setzt sich eine Spirale nach oben in Gang”, erzählt er. Vor einigen Monaten hat der 32-Jährige seine eigene Agentur gegründet. Zusammen mit zwei Angestellten entwickelt er visuelle Unternehmensidentitäten: Markenberatung, Design von Logos – alles, was heutzutage zur Bildung der so genannten corporate identity einer Firma dazu gehört.
Das nötige Startkapital kam zur Hälfte von seinem ebenso experimentierfreudigen Chef. 50.000 Euro stellte der bereit und sagte: Versuch’s einfach mal! „Die Bereitschaft, hier etwas Neues auszuprobieren, ist definitiv größer“, meint Nico-Alexander Jahn. Er erklärt das mit dem noch immer andauernden Transformationsprozess, den Bulgarien seit der Wende von 1989 vollzieht. „Die Strukturen sind noch nicht so festgefahren wie in Deutschland, was einen größeren Freiraum für kreative Ideen ermöglicht.“ Auch das finanzielle Risiko, ein Unternehmen zu gründen, sei weitaus geringer ist als in Deutschland.
ort wäre der gebürtige West-Berliner sicherlich heute noch tätig, wenn nicht sein Freund Enrico Repouz gewesen wäre. Der sitzt nicht weit entfernt in seinem Büro, mit Blick über den Sofioter Südpark hinweg bis zum Berg Vitosha, auf dessen Gipfel auch im Frühling noch Schnee lieg. Enrico Repouz rollt eines dieser kleinen Papierröllchen auseinander, die man in Bulgarien oft zum Kaffee erhält: “Besser spät als niemals. Und besser niemals spät”, liest er und lächelt – ein gelungenes Lebensmotto, findet er.
In Deutschland sei es für ihn sehr schwer gewesen – für einen, der acht Jahre seines Lebens in den USA verbracht hat. Die endgültige Rückkehr nach Berlin erfuhr er als Kulturschock – das kleinliche Denken, die Bürokratie, die Hürden, die einem in den Weg gelegt werden, „wenn man sein eigenes Ding machen will“, wie er immer wieder sagt. Repouz hat für namhafte Unternehmen gearbeitet, hat Unterhaltungsparks konzipiert, aber alle Versuche, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, sind gescheitert. „Es ging einfach nicht. Deutschland hat seine Blüte erlebt“, resümiert der 36-jährige Industriedesigner.
Was tun, wenn die Reifen durchdrehen und man nicht vorankommt? „Du musst etwas verändern. Du musst raus, irgendwohin”, sagt Enrico Repouz und sieht dabei wieder sehr entschlossen aus. Den eigentlichen Anstoß gab eine zufällige Begegnung, eine Geschichte, wie sie sich in Europa nur im fernen Osten ereignen kann. Im Urlaub traf er auf einen Vertreter der größten Bierbrauerei Bulgariens. Man aß und trank zusammen, man verstand sich gut – und am nächsten Tag hatte Enrico Repouz den Auftrag in der Tasche, eine neue Flasche für die Fußball-Europameisterschaft 2004 zu entwerfen. „Das ist ein Traum“, dachte er sich. Er war im Urlaub und hatte gerade einen Vertrag für eine Bierflasche unterzeichnet, die millionenfach produziert werden sollte. „In Deutschland auf diese Weise an einen solchen Auftrag zu kommen, ist praktisch unmöglich”, ist sich Enrico Repouz sicher. In Bulgarien könne das nach einem bloßen Gespräch passieren. Wenn man sich versteht. Und vor allem: Wenn man sich vertraut. „Und das war dann auch der Grund, weshalb ich gesagt habe: Wenn das einmal geklappt hat, geh ich runter und schau, was ich machen kann.”
Als er in Sofia ankam, kannte er niemanden. Aber gerade das erste Jahr sei unheimlich interessant gewesen, „weil plötzlich so eine Energie frei geworden ist”, erinnert er sich. Alles zu sehen und zu erkunden, Kontakte zu knüpfen und den eigenen Platz zu finden. Sechs Jahre später hat Enrico Repouz die Form gefunden, die sowohl ihm als auch dem bulgarischen Markt entspricht: ein eigenes Unternehmen, zusammen mit zwei Partnern und zehn Angestellten. Angefangen haben sie als Büro für Innenausstattung. Heute ist er soweit, dass er zur Innenausstattung gleich das gesamte Gebäude plant. „Wäre das in Deutschland möglich?”, fragt er. „Allein das Ego eines deutschen Architekten würde es nie erlauben, dass Du seine Gebäude planst – obwohl Du vielleicht viel besser bist als er.”
Dass seine Mutter gebürtige Bulgarin ist und er deshalb die Sprache spricht, mache natürlich Vieles einfacher, aber entscheidend sei das in Bulgarien nicht. “Wichtig ist, wie du mit den Leuten umgehst”, betont er und blickt aus dem Fenster. Von außen dringt Baulärm herein, der Soundtrack zum Wirtschaftsboom, den das Land seit einigen Jahren genießt und der dafür sorgt, dass Enrico Repouz gelassen in die Zukunft blickt. Sorgen macht ihm eher, dass auch er schon den Mangel an Fachkräften zu spüren bekommt.
Daran ist weniger der viel beschworene brain drain Schuld, unter dem Bulgarien seit der Wende wie kaum ein anderes osteuropäisches Land leidet. Das Problem ist vielmehr die riesige Nachfrage, gerade in der Baubranche, die durch die heutigen Absolventen nicht einmal ansatzweise gedeckt werden kann. „Ich habe schon in Berlin angerufen und Freunde und Bekannte gefragt, ob sie nicht Interesse haben, im Ausland zu arbeiten”, erzählt Enrico Repouz. Dabei versucht er ihnen immer eines klar zu machen: „Das, wofür die Leute im 19. Jahrhundert Amerika hielten, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das liegt nicht mehr im Westen, sondern im Osten.”
Mit solchen Schwärmereien hat Repouz damals auch seinen Freund Nico-Alexander Jahn nach Bulgarien gebracht, der seinen Schritt nicht im Geringsten bereut. Angefangen hat er mit seiner Agentur als klassisches Outsourcing-Projekt: Die geringeren Lohnkosten machen es möglich, finanziell immer ein wenig die Nase vorn zu haben. „Und plötzlich findet man sich auf internationalen Nominierungslisten”, sagt er und wirkt dabei wie einer, der seinen Erfolg noch immer nicht ganz glauben kann. Denn schon jetzt gibt es Signale seiner vorwiegend deutschen Kunden, die sich eine Niederlassung seines Unternehmens auch in Berlin wünschen. Das wäre dann nicht nur ein weiteres Kuriosum – ein Deutscher gründet ein bulgarisches Unternehmen und expandiert damit von Sofia wieder zurück nach Berlin –, sondern zugleich auch eine persönliche Erfüllung: Hin und her pendelnd zwischen Ost und West würde er sich aus beiden Welten die Rosinen herauspicken können, sagt Jahn. Denn aufgeben will er den Standort Sofia nicht. Einfach weil es, wie sein Freund Enrico Repouz sagt, eine “aufregende Pionierarbeit hier ist. Du machst Dein eigenes Ding. Und auch wenn Du aus dem Fenster schaust und siehst, es ist alles dreckig und unreguliert – es macht trotzdem Spaß.”