Proeuropäische Regierung in Serbien
Gut sechs Wochen nach den vorgezogenen Parlamentswahlen bekommt Serbien eine klar pro-europäische Regierung. Mit an Bord sind auch die Sozialisten des einstigen jugoslawischen Machthabers Slobodan Milosevic.
Die Bilder, die während der vergangenen Tage über die Fernsehschirme in Serbien flimmerten, waren für Kenner der dortigen Politszene doch ziemlich gewöhnungsbedürftig, ja fast absurd: Staatspräsident Boris Tadic, Vorsitzender der prowestlichen Demokratischen Partei (DS) und Sozialistenchef Ivica Dacic, in diesem Amt Nachfolger des einstigen serbischen und jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic, konnten kaum mehr aufhören, sich die Hände zu schütteln und zufriedene Gesichter zu machen. Die Bündnisse um ihre beiden Parteien, die sich bis vor wenigen Wochen noch erbittert bekämpft hatten, bilden nun gemeinsam die neue serbische Regierung.
Auch wenn sich die Sozialisten (SPS) bis heute mit keinem Wort von der nationalistischen Kriegspolitik ihres Übervaters Milosevic aus den 90er-Jahren distanziert haben, scheint die alte Feindschaft wie weggeblasen. Bereits am Montagabend hatte die SPS-Spitze einer Koalitionsregierung mit dem von Tadic angeführten Wahlbündnis "Für ein europäisches Serbien" (ZES), bestehend aus der DS, den Wirtschaftsreformern von G17plus und drei kleinen Bündnispartnern, offiziell zugestimmt. Weil die DS und die SPS schon seit längerem hinter den Kulissen verhandelt hatten, geht es jetzt nur noch um die Verteilung der verschiedenen Ämter und Funktionen. Die beiden heißesten Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten sind der bisherige Außenminister Vuk Jeremic und Finanzminister Mirko Cvetkovic, beide von Tadics DS. Ivica Dacic, dies scheint beschlossene Sache zu sein, wird Vizepremier und gleichzeitig Innenminister Serbiens.
Ivica Dacic – ein Porträt
Sozialisten-Chef
Ivica Dacic (52) war lange Jahre ein treuer Gefolgsmann von Slobodan
Milosevic, dem Gründer und ersten Vorsitzenden der SPS. 1990 wurde
Dacic, der sein Journalistik-Studium mit der bestmöglichen Note
abgeschlossen hatte, zum Chef der Jungen Sozialisten gewählt. Von 1992
bis zum Sturz Milosevics im Oktober 2000 war er Pressesprecher der
Partei. 1996 überstand er als einer der wenigen die radikalen
"Säuberungen" an der Parteispitze, was für seine Nähe zu Milosevic
sprach.
Nachdem dieser im Juni 2001 vom neuen starken Mann
des Landes, dem später ermordeten DS-Reformpremier Zoran Djindjic, an
das Haager Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien
ausgeliefert worden war, emanzipierte sich Dacic aber immer mehr von
seinem Übervater. Er nahm die Führung der Sozialisten Schritt für
Schritt in die eigenen Hände, zunächst als Vizepräsident von 2000 bis
2003. 2004 kandidierte er als Staatspräsident, kam aber nicht über den
fünften Platz hinaus.
Formal wurde Dacic allerdings erst nach Milosevics Tod im Jahr 2006 Parteichef. Bis heute aber hat der zweifache Familienvater, der auch dem Europarat angehört, nie von der nationalistischen Kriegspolitik seines einstigen Chefs in den 1990er-Jahren Abstand genommen. Dem Haager Tribunal wirft er bis heute vor, Milosevic ermordet zu haben, in Serbien hatte er für ihn ein Helden-Begräbnis gefordert. Es scheint Ironie des Schicksals – oder vielleicht doch eher politischer Pragmatismus und Machthunger – zu sein, dass der Dacic künftig mit jenen reformerischen Kräften aus der DS auf der Regierungsbank sitzt, die Milosevic im Oktober 2000 nach dessen Wahlbetrug mit einem Volksaufstand aus dem Amt jagten und ihn der internationalen Justiz auslieferten. Dacic war die ganze Zeit über mit von der Partie, stets als treu an der Seite seines Chefs und Vorbildes Slobodan Milosevic.
Die neue Regierung kann sich im 250-köpfigen serbischen Parlament auf eine Mehrheit von 129 Sitzen stützen: 102 Abgeordnete von ZES, 20 der Sozialisten und ihrer zwei kleinen Koalitionspartner und sieben aus den Reihen der ungarischen, bosniakischen und albanischen Minderheiten. Auch die Liberaldemokraten des proeuropäischen Ultrareformers Cedomir Jovanovic haben angekündigt, mit ihren 13 Sitzen keine Fundamentalopposition betreiben und die Regierung besonders in Fragen der europäischen Integration unterstützen zu wollen. Damit steht der Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA), das die EU und Serbien Anfang Mai unterzeichnet hatten, und der weiteren Annäherung Belgrads an Brüssel nichts mehr im Wege. Die EU begrüßte das Zustandekommen einer proeuropäischen Koalition in Serbien ausdrücklich. Erweiterungskommissar Olli Rehn sagte: "Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit dieser Regierung."
Auch die Sozialisten stehen hinter dem SAA und streben einen EU-Beitritt Serbiens an. Genau an diesem Punkt waren die zuvor geführten Koalitionsgespräche der SPS mit der nationalistischen Demokratischen Partei Serbiens (DSS) des bisherigen Ministerpräsidenten Vojislav Kostunica sowie mit der Serbischen Radikalen Partei (SRS) des als Kriegsverbrecher angeklagten Vojislav Seselj gescheitert. Beide lehnen das SAA und eine weitere Annäherung Serbiens an die Europäische Union ab.
Eine der größten Herausforderungen für die neue Regierung dürfte eine Verbesserung der Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) sein. Nicht nur das UN-Gericht in Den Haag, sondern vor allem auch die EU erwartet nun die rasche Verhaftung und Auslieferung der drei noch flüchtigen mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladic, Radovan Karadzic und Goran Hadzic. Insbesondere die Niederlande hatten angekündigt, das SAA nur zu ratifizieren, wenn Serbien vollständig mit dem ICTY kooperiert – will heißen, wenn Mladic in Den Haag ist.
Das Tribunal geht davon aus, dass sich Mladic und Hadzic in Serbien aufhalten, Karadzic möglicherweise in einem Nachbarland. Ob die Voraussetzungen für eine Verhaftung der drei Flüchtigen mit einem SPS-Innenminister Dacic, der damit auch für die Polizei verantwortlich ist, nun besser werden als unter seinem Amtsvorgänger, dem Kostunica-Getreuen Dragan Jocic, bleibt abzuwarten. Denn es ist ein offenes Geheimnis, dass gerade in Polizei und Geheimdiensten noch zahlreiche einflussreiche Personen aus der Ära Milosevic mitmischen, die kaum ein Interesse an der Aufklärung von Kriegsverbrechen haben. Dass ausgerechnet ein Ziehsohn Milosevics hierbei für einen Neuanfang stehen soll, ist schwer zu glauben. Doch dies scheint der Preis zu sein, den Tadic bezahlen musste, um die Sozialisten mit ins Boot zu holen. Denn die SPS war bei den Wahlen am 11. Mai mit dem besten Resultat seit dem Sturz Milosevics als Zünglein an der Waage auf die politische Bühne Serbiens zurückgekehrt. Ohne die Sozialisten wäre eine Regierungsbildung weder für die Pro-Europäer noch für die Nationalisten möglich gewesen.
In der Kosovo-Frage sind von der neuen Regierung keine neuen Positionen zu erwarten. Sie wird sich wie bisher mit allen diplomatischen Mitteln der Unabhängigkeit der in ihren Augen noch immer südserbischen Provinz widersetzen. In Prishtina erhoffen sich aber viele, dass Belgrad nach dem Ausscheiden von Vojislav Kostunica und seinem als Scharfmacher bekannten Kosovo-Minister Slobodan Samardzic zu einem sachlicheren Umgangston findet. Der kosovo-albanische Politologe Lulzim Peci glaubt, dass Tadic einige Hitzköpfe im Norden Kosovos von der politischen Bühne entfernen wird und wo wenigstens "ein toleranteres Klima für den politischen Dialog entsteht". Wie sich die Tatsache, dass Sozialisten-Chef Ivica Dacic in der kosovarischen Stadt Prizren zur Welt kam, auf die künftige Kosovo-Politik der serbischen Regierung auswirken wird, muss sich allerdings erst weisen.