Nomade in Zeit und Raum
Nikola Madzirov gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Lyriker Mazedoniens. Der 37-Jährige setzt seine Verse zwischen verblasste Aufkleber und angebissene Äpfel, zwischen Bibelstellen und Tao. Sein Gedichtband „Versetzter Stein“ ist nun auf Deutsch erschienen.
Sie kommen vom Balkan, aus Mazedonien, und haben in Ihrem Essay „Balkanischer Spaghetti Western“ eine eigene Spezies Mensch erschrieben, den „Homo Balcanicus“. Was ist das für ein Typ?
Nikola Madzirov: Der „Homo Balcanicus" ist ein Mensch, an dem gezweifelt wird und der an sich zweifelt. Er gehört zu vielen Kulturen, zu vielen Ländern, zu vielen historischen Augenblicken. Ein mazedonischer Schriftsteller hat einmal gesagt, dass es auf dem Balkan nicht möglich ist, in ein und demselben Land geboren zu werden und zu sterben. Das liegt an den spezifischen ideologischen und geopolitischen Dynamiken dieser Region.
Auch an Ihrem Nachnamen „Madzirov“ kann man diese Veränderungen und Bewegungen ablesen.
Madzirov: Ja, mein Nachname „Madzirov“ ist mit der Bewegung von einem Ort zum anderen verbunden, und zwar als Folge der Balkankriege. Meine Vorfahren waren gezwungen, von dem Teil Mazedoniens wegzugehen, der heute zu Griechenland gehört. Deswegen wurden sie „madziri“ genannt, Menschen ohne Zuhause. Dieses Wort ist ursprünglich arabisch und stammt von den Anhängern Mohammeds ab, die mit ihm von Mekka nach Medina gezogen sind. Aber es ist ein überzeitlicher Begriff, denn es wird immer Bewegungen durch Zeit und Raum geben.
Ihr Buch „Versetzter Stein“, das Ende September auf Deutsch in der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser erschienen ist, ist auf Reisen entstanden. Sie haben es unterwegs geschrieben, sind für ein Stipendium nach Österreich gefahren und haben in Wien angefangen zu arbeiten, nicht in Mazedonien.
Madzirov: Der Prozess des Reisens ist ein Teil der Schöpfung dieser Texte. Ich war viel unterwegs, mit dem Bus, dem Flugzeug, mit dem Zug. Das ist ein Konzept des Buches, dass alle Gedichte außerhalb meines Zuhauses in Mazedonien entstanden sind. Das steht auch in Verbindung mit dem Titel „Versetzer Stein“. Es geht dabei darum, die innere Haltung in Bewegung zu bringen, Denkmuster zu hinterfragen und Positionen zu überdenken. Es ist ein Privileg, wenn man die Möglichkeit hat, sich sein Leben lang immer wieder neu zu positionieren, nicht nur äußerlich, sondern auch im Inneren. Ich glaube an diesen mentalen Nomadismus.
In Ihren Gedichten fällt aber auf, dass das lyrische Ich oft sehr passiv ist und nichts macht. Dinge oder Tiere kommen dann zu ihm hin, zum Beispiel im Gedicht „Ich wachse“, in dem es heißt: „Es kamen Rehe an mein Bett/ und Hasen / tatsächlich/ auch Pferde und Schafe / und die Ziegen waren da/ und dann begann unter meinem Bett/ Gras zu wachsen /(...).“
Madzirov (lacht): Das scheint paradox, es ist aber auch nur eine mögliche Sichtweise. Manchmal steht das lyrische Subjekt als Beobachter außerhalb des Gedichts. Wenn man Dinge beobachtet, scheinen sie sich zu einem hin zu bewegen. Gleichzeitig hat man den Eindruck, man sei selber die ganze Zeit in Bewegung. Auf Bildern von alten chinesischen Malern sind Menschen oder Tiere sehr klein. Sie stehen nicht im Zentrum, sondern sind Teil der Bäume, der Berge, kurz, ihrer Umgebung. Es gibt also kein Zentrum, weder Subjekt noch Objekt. Nur im Westen wird immer nach dem Zentrum gesucht.
Und wonach suchen Sie?
Madzirov: Ich suche nach dem „Dazwischen“, nach Zwischensituationen, die immer Teil einer Bewegung sind. Wenn man eine leere Plastiktüte im Wind fliegen sieht, dann ist diese Tüte auch im Dazwischen. Sie bewegt sich und auch ein Vogel bewegt sich, um im Dazwischen zu sein. Solche Bewegungen sind das poetische Fundament meines neuen Buches.
Sie lokalisieren das Dazwischen aber nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit.
Madzirov: Für mich haben Raum und Zeit viele Ebenen. Gadamer, einer meiner liebsten Philosophen, unterscheidet zwei Arten von Zeit: zum einen die Zeit der Dinge und zum anderen unsere Zeit. Die Zeit der Dinge steht in einem sozialen Kontext, das ist die Zeit für die Dinge, die wir tun müssen. Die zweite Zeit ist die Zeit unserer Kindheit, die Zeit unseres Lebens, die Zeit unseres Todes. Wir leben im Dazwischen dieser beiden Zeiten und zwischen ihnen liegt der Raum.
Ist die Kindheit dabei eine besondere Zeit für Sie? In Ihren Gedichten tauchen „Aufkleber der Kindheit am Kühlschrank“ auf, ein verirrtes Kind oder Spielzeuge, die vergraben sind.
Madzirov: Ich spreche über die räumliche, nicht über die zeitliche Dimension der Kindheit. Kindheit ist für mich ein kleines Haus, dessen Schlüssel versteckt oder verloren ist, und wir suchen ununterbrochen danach. Wir erinnern uns an Bilder, reden lächelnd über unsere Kindheit, wissen aber, dass wir dieses Haus nicht mehr betreten können. Den Schlüssel aber suchen wir.
Kinder beeindrucken mich: Wenn sie in frischen Asphalt treten, dann nicht, um ein Zeichen zu hinterlassen in der Art von „beachte mich, schau mich an“, sondern weil ihre Fußabdrücke die Struktur verändern. Sie suchen nach neuen Mustern, neuen Erfahrungen, neuen Ebenen. Erwachsene dagegen wollen unbedingt Spuren hinterlassen auf der Suche nach Ewigkeit.
Wie soll der „Fußabdruck“ Ihrer Gedichte Strukturen verändern?
Madzirov: Meine Gedichte basieren auf unvollständigen Bildern einer unvollständigen Erinnerung. Es macht mich glücklich, wenn meine Gedichte für jemanden, der sie liest, einen fehlenden Teil seines Gedächtnisses darstellen und dadurch ein Bild vervollständigen können. Das ist einer der Gründe, warum ich schreibe, um die Welt zu vervollständigen, die persönliche Welt von irgendjemandem und vielleicht auch meine.
Was heißt es für Sie, ein Dichter aus einem ganz konkreten Raum, nämlich Mazedonien, zu sein?
Madzirov: Jeder Dichter sollte wieder mehr die Möglichkeiten erforschen, die der Raum ihm bietet, in dem er lebt. Dieser Raum hat selbstverständlich einen großen Einfluss auf sein Werk. Doch ein Dichter in Mazedonien zu sein, ist, wie ein Poet irgendwo auf der Welt zu sein. Dank Globalisierung und Internet gibt es mehr Möglichkeiten, das eigene Werk zu zeigen oder mit anderen Dichtern in Kontakt zu treten. Doch Poesie hat nichts mit der Zahl der Auflagen oder Leser zu tun. Enzensberger stellte fest, dass es überall auf der Welt, in jedem Land 1.354 Leser eines Gedichts gibt. Nach Enzensberger sind, je kleiner ein Land ist, dessen Gedichte umso bedeutender.
Hat Enzensberger Recht?
Madzirov (lacht): Ich weiß nicht. Aber es ist zumindest sehr interessant, sich vorzustellen, dass – egal ob in China, in Mazedonien oder in Deutschland – jedes Gedicht 1.354 Leser hat.
Zur Person:
Nikola Madzirov (geb. 1973) lebt in Strumica (Mazedonien) und ist als Lyriker, Essayist und literarischer Übersetzer tätig. Sein Gedichtband „Versetzter Stein“ ist im Herbst 2011 auf Deutsch im Carl-Hanser-Verlag erschienen. Der Band entstand in Wien, erschien im Original 2007 und wurde im gleichen Jahr sowohl mit dem Hubert Burda Preis für osteuropäische Lyrik sowie dem mazedonischen Poesiepreis „Braka Miladinovci“ ausgezeichnet. Nikola Madzirovs Werke sind in dreißig Sprachen übersetzt worden. Deutsche Übersetzungen seiner Lyrik erschienen u. a. in den Literaturzeitschriften „Akzente“, „Wespennest«, »Manuskripte« und »Lichtungen«. Madzirov arbeitete für das mazedonische Internet-Magazin „Blesok“ und ist mazedonischer Koordinator des internationalen Netzwerks Lyrikline. Derzeit lebt er als Stipendiat der Villa Waldberta in Feldafing bei München.
Nikola Madzirov: Versetzter Stein, Hanser Verlag, 64 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-446-23748-3.
Der Text ist die gekürzte und aktualisierte Version eines Interviews vom Januar 2008