MARIONETTE ODER ALLEINHERRSCHER?
„Focus“-Korrespondent Boris Reitschuster porträtiert den russischen Präsidenten Medwedew(n-ost) - So schnell war sonst keiner: Dmitri Medwedew war noch nicht als Präsident vereidigt, da hatte „Focus“-Korrespondent Boris Reitschuster bereits das erste große Porträt über ihn geschrieben. Herausgekommen ist eine lesenswerte Bekanntschaft mit dem neuen Mann an Russlands Spitze. „Der neue Herr im Kreml?“ lautet der Titel des Buches. Die Betonung liegt auf dem Fragezeichen.
Boris Reitschuster: Der neue Herr im Kreml?
FOTO: Econ-VerlagBoris Reitschuster ist Kritik gewohnt. Von der Beschimpfung bis zur Todesdrohung hat er alles zu hören bekommen. Nachdem er im gleichnamigen Buch „Putins Demokratur“ beschrieb, musste er manches einstecken. Vergleichsweise ruhig ist es bislang um sein neues Buch geblieben. Mit diesem hat der Autor nur wenige Wochen nach der Präsidentschaftswahl ein umfangreiches Porträt verfasst, obwohl er zunächst selbst annahm, es sei leichter ein Buch über einen leeren Aktenordner zu schreiben als über Medwedew. „Doch dieser Eindruck täuschte gewaltig“, so Reitschuster. Am Ende ließen sich weit mehr als 200 Seiten über den „unscheinbaren Juristen aus St. Petersburg“ füllen. „Die vermeintliche Farblosigkeit des neuen russischen Präsidenten wich bei den Recherchen immer mehr bunten Zügen“, schreibt Reitschuster. „Der Blick auf Medwedews Wurzeln gibt spannende Hinweise auf Sollbruchstellen und potenzielle Konflikte mit seinem Förderer Putin.“ Er raube aber auch die Illusion, heißt es weiter, Medwedew werde sich vom Ziehsohn eines demokratischen Saulus quasi über Nacht zum Paulus gorbatschowschen Formates wandeln. Das Buch arbeitet akribisch die jüngste Vergangenheit auf. Reitschuster beschreibt, vor welchen Überlegungen Putin gestanden haben muss, als es darum ging, einen geeigneten Nachfolger für das Präsidentenamt zu finden oder womöglich selbst eine dritte Amtszeit anzutreten. „Putin stand wohl vor der schwersten Entscheidung seines Lebens.“ Bis in den Wahlmonat März reicht die Politchronik. Reitschuster beschreibt die Machtkämpfe hinter den Kremlmauern ebenso wie die Alternativkandidaten für das Präsidentenamt Sergej Iwanow und Viktor Subkow. Zudem dokumentiert das Buch Medwedews Kindheit in St. Petersburg. Es erzählt, wie der strebsame Bücherwurm und Einzelgänger Dima über das Jurastudium in die Petersburger Stadtverwaltung gelangt und von dort mit Putin nach Moskau – bis in das Amt des Ersten Vizepremiers und in den Chefsessel des Gasprom-Aufsichtsrats.Das Ergebnis von Reitschusters Recherche ist keine lückenlose Biografie, schon aufgrund der begrenzten Zeit kann es das nicht sein. Doch es ist eine gelungene Vorstellung des im Westen noch wenig bekannten 42-Jährigen. Manches mag einem vertraut vorkommen aus dem Vorgängerband „Putins Demokratur“. Doch das wundert kaum bei der engen Verflechtung Medwedews mit der politischen Karriere seines Amtsvorgängers. Ohnehin ist Medwedew ohne eine Einordnung in die verworrenen Geschehnisse hinter den Kremlmauern kaum zu verstehen. So gewährt der Autor einen tiefen Einblick in das politische Russland von heute. Dabei will Reitschuster „Übersetzungsarbeit“ für den westlichen Leser leisten. Denn viele Alltagserlebnisse klängen unrealistisch bis bizarr für denjenigen, der sie nicht aus eigener Erfahrung kenne. Des journalistischen Dilemmas, gerade bei Kritik oftmals anonyme Quellen zitieren zu müssen, ist sich Reitschuster bewusst. Er nennt es jedoch „fahrlässig“, dann lieber ganz auf diese Aussagen zu verzichten. Das gilt gerade in Zeiten, in denen politische Berichterstatter zunehmend wieder „Kreml-Astrologie“ wie zu Sowjetzeiten betreiben müssen. Reitschuster verweist auf seine jahrelange Erfahrung als Korrespondent, mit der er sich darum bemüht, seriöse Informationen von Gerüchten zu unterscheiden. „Die Vorwürfe lassen sich nicht belegen, kommen aber aus unterschiedlichen, unverdächtigen und durchaus vertrauenswürdigen Quellen“, kommentiert er seine Recherche-Ergebnisse an einer Stelle.Am Ende seines Buches wagt Reitschuster in zwei möglichen Szenarien einen Blick in die Zukunft. Einmal beschreibt er Medwedew in einer Fahrschulsituation: Er sitzt am Steuer und darf auch aufs Gas drücken – auf dem Beifahrersitz aber sitzt Putin mit eigenem Gashebel und Bremse und dem Recht, jederzeit ins Steuer zu greifen. Alternativ wandele sich der vermeintlich schwache Apparatschik Medwedew womöglich doch zum wahren Herrscher. Über kurz oder lang werde sich in dem Tandem Medwedew-Putin die Machtfrage stellen, glauben Anhänger dieses „Emanzipierungs-Szenarios“. Es wäre fatal, Medwedew von vornherein als Marionette Putins oder Anhänger autoritärer Ideen abzutun, schlussfolgert Reitschuster. Ebenso falsch wäre es jedoch, genau diese Gefahr zu ignorieren.Boris Reitschuster: Der neue Herr im Kreml? Econ, 2008, 256 Seiten, 16,90 Euro.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0