DIE ZEIT, DIE BLEIBT
Józef Kuzba, einst Zwangsarbeiter im KZ Sachsenhausen, kämpft gegen das Vergessen und setzt dabei auf die Jugend(n-ost) – Die Zeit rennt. Deshalb hat Józef Kuzba seine bestens organisiert. Fein säuberlich hat der 91-Jährige jeden seiner Termine im aufgeschlagenen Taschenkalender eingetragen. Recklinghausen steht da, Berlin, Bergen-Belsen und immer wieder seine Heimatstadt Warschau. Wie auch an diesem Vormittag. Józef Kuzba ist einer von einer halben Million noch lebender Zwangsarbeiter in Polen. Immer wieder erzählt er seine Lebensgeschichte. In Deutschland, Österreich und Polen, er erzählt sie Politikern, Studenten und immer wieder den Schülern. „Das Lager hat mein ganzes Leben geprägt“, sagt Kuzba. Trotz schnellem beruflichen Aufstieg im Nachkriegspolen. Vom Bildungsministerium kam er ins Planungsinstitut in Warschau, von dort an die polnische Botschaft nach Moskau und später nach Bonn. Zuletzt war Kuzba Direktor des Warschauer Büros für Außenhandel.
Józef Kuzba erzählt regelmäßig Schülern seine Lebensgeschichte
FOTO: Melanie LongerichDoch seine Zeit im Lager konnte er nie vergessen: „Seit meiner Pensionierung beschäftige ich mich nur noch mit Sachsenhausen“, sagt er, greift seinen Stoffbeutel fester und läuft langsam durch den Vortragssaal des geschichtlichen Begegnungshauses der Warschauer Karta-Stiftung zum Podium. Die Sechstklässler verfolgen gespannt jeden seiner Schritte. Was sie denn schon aus dem Geschichtsunterricht über die Konzentrationslager wüssten, will Kuzba noch im Vorbeigehen wissen. „Noch nicht sehr viel“, entgegnet die Lehrerin und es klingt fast betreten. Józef Kuzba setzt sich aufrecht in seinen Sessel und erzählt.Erinnerung wach haltenAls 22-jähriger Lehrer war Kuzba nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen zunächst in die Slowakei geflüchtet, als in seinem Geburtsort in Pommern die Nazis Ende 1939 die Gegend nach polnischer Intelligenz durchkämmten. Doch nachdem ihn ein Schaffner verraten hatte, wurde er im Sommer 1940 nach Sachsenhausen deportiert und arbeitete dort fast fünf Jahre im Klinkerwerk, dann im Hafen und schließlich in der KZ-Fälscherwerkstatt, wo er die Druckmaschinen wartete. Seine Erinnerungen gingen in das Drehbuch für den österreichischen Film und Oscar-Gewinner „Die Fälscher“ ein. „In drei Monaten war ich auf 36 Kilogramm abgemagert“, sagt Kuzba. Er erzählt langsam und mit ruhiger Stimme von Schikanen der Aufseher, von der Hilfsbereitschaft, die zum Teil unter den Häftlingen herrschte und vom Todesmarsch Richtung Ostseeküste, den er gemeinsam mit seiner Frau überlebte. Wie oft er seine Lebensgeschichte schon erzählt hat? Józef Kuzba kann sich nicht erinnern: „Es kann niemals genug sein“, sagt er nach seinem Treffen mit den Schülern. Józef Kuzba ist einer von insgesamt 1,7 Millionen früheren Zwangsarbeitern, die seit 2001 Entschädigungen aus Deutschland erhielten. Genau ein Jahr ist es nun her, seit die Gelder verteilt sind. Insgesamt 4,36 Milliarden Euro hat die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in zwei Raten an Anspruchsberechtigte über insgesamt sieben Partnerorganisationen ausgezahlt. In Polen entschädigte die Warschauer Stiftung für deutsch-polnische Aussöhnung über 480.000 Naziopfer und ehemalige Zwangsarbeiter mit knapp einer Milliarde Euro und realisierte ein soziales Hilfsprogramm für rund 200.000 Opfer. Józef Kuzba erhielt – wie insgesamt 43.000 Polen – die Höchstsumme von 7.500 Euro. Er konnte sie gut gebrauchen. Der Alltag in Warschau ist teuer und seine Rente nur klein.Kuzba bedauert, dass viele seiner Mithäftlinge schon gestorben waren, als die Gelder ausgezahlt wurden: War er in den 1950er Jahren noch mit einem ganzen Zug ehemaliger Zwangsarbeiter zum Gedenken nach Sachsenhausen gereist, leben heute in Warschau nur noch sechs von ihnen. Doch anders als die polnischen Opferverbände, die auch für die Zukunft eine starkes finanzielles Engagement Deutschlands einfordern, geht es dem Warschauer nicht ums Geld: „Wir haben lange auf die deutsche Anerkennung unserer Leiden warten müssen. Jetzt fühlen wir uns wahrgenommen“, sagt er. Józef Kuzba streicht sich durch sein schlohweißes Haar, öffnet seinen Stoffbeutel, und zieht alte Dokumente und Fotos hervor. Seine Lebensgeschichte soll demnächst in Polen als Buch erscheinen. Dass dies gelingen konnte, sagt er, liege auch an den deutschen Freiwilligen, die ihm viel Arbeit abnehmen. Drei von ihnen werden von der Bundesstiftung finanziell unterstützt und in der polnischen Partnerorganisation in Warschau betreut, sie kümmern sich um 80 ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge allein in der polnischen Hauptstadt. „Ziel ist es, die Betroffenen aus ihrer Isolation zu befreien und einen Austausch mit der jüngeren Generation zu schaffen“, erklärt Martin Salm, Vorstandsvorsitzender der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ das Anliegen.Der Fonds, dessen Verwaltung nach Abschluss der Zahlungen zur Hauptaufgabe der Bundesstiftung wurde, besteht aus einem Kapital von 418 Millionen Euro. Die jährlichen Zinserträge von gut acht Millionen Euro finanzieren unter anderem Projekte, die der Völkerverständigung dienen, wie etwa die Treffen mit Zeitzeugen zu denen Kuzba regelmäßig nach Deutschland reist. Wichtiger Austausch mit JugendlichenEtwa dreimal wöchentlich besuchen Józef Kuzba die Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen, helfen ihm bei der Korrespondenz mit deutschen Institutionen, korrigieren seine deutschen Texte, gehen für ihn einkaufen oder verbringen Zeit mit ihm, um zuzuhören und zu diskutieren. „Für mich ist der Austausch mit der Jugend wichtig.“ Józef Kuzba wartet oft ungeduldig auf seinen Besuch. Seitdem seine Frau gestorben ist, ist es still geworden in seiner kleinen Wohnung in der Nähe der Altstadt. „Generationendialog“ sagt Dariusz Pawlos, seit diesem Jahr Chef der Warschauer Stiftung für deutsch-polnische Aussöhnung und nickt. Genau wie in der Bundesstiftung setzt man auch hier neben der Betreuung der Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge verstärkt auf Bildung und wissenschaftliche Aufarbeitung. Die Stiftung habe über fünf Kilometer Akten angesammelt. Zeitzeugenberichte, Dokumente, Bilder, Tagebücher und Briefe: „Es wird immer weniger Zeugen geben, wir müssen ihr Wissen bewahren“, sagt Pawlos.Doch die neue Ausrichtung der Stiftung war in Polen lange umstritten: Unter der deutschlandskeptischen Haltung der polnischen Kaczynski-Regierung war der damalige Deutschlandberater und als Hardliner bekannte Mariusz Muszynski zwei Jahre lang Chef der polnischen Partnerstiftung und deren zukünftige Ausrichtung damit lange Zeit ungewiss. Noch kurz vor seiner Abberufung hatte Muszynski im Dezember vergangenen Jahres zusammen mit der „Vereinigung der Ausgesiedelten Einwohner von Gdynia“ die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ vor dem Verwaltungsgericht Berlin wegen des Beschlusses des Kuratoriums verklagt, die restlichen Verwaltungsmittel für Bildung und Forschung einzusetzen und hierfür sechs Millionen Euro bereitzustellen. Anders als das Stiftungsgesetz vorsieht, wollte Muszynski das Geld lieber direkt an die Opfer ausgezahlt wissen. Bis heute genießt er dafür unter den Opferverbänden hohes Ansehen.Józef Sowa, Vorsitzender des Vereins der durch das Dritte Reich geschädigten Polen, des mit 200.000 Mitgliedern größte Opferverbands Polens, ist enttäuscht: „Zuerst waren wir alle sehr euphorisch, als wir erfuhren, dass Deutschland uns entschädigen will für das Leid jahrelanger Zwangsarbeit“, sagt er. Doch dann hätte er erfahren, dass nicht alle Zwangsarbeiter entschädigt wurden, etwa die, die auf polnischem Terrain in Lagern gearbeitet hatten. Auch die geringen Beträge hätten viele Opfer eher als Almosen empfunden. „Österreich zahlt ehemaligen Zwangsarbeitern heute wenigstens noch eine kleine Rente“, kritisiert er. Das sei zwar auch nicht viel Geld, „aber immerhin“, setzt er kämpferisch nach. Ähnliches erwarte er auch von der Bundesregierung: „Die Opfer werden immer älter und gebrechlicher. Die meisten sind arm, wie sollen sie sich auf eigene Kosten Betreuung leisten“, fragt er. Martin Salm kennt die Kritik seitens der Opferverbände: „Da bleibt viel Bitterkeit“, sagt der Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung und weiß, dass es unmöglich ist, umfassende Gerechtigkeit herzustellen. Salm betont, dass individuelle Zahlungen endgültig abgeschlossen sind: „Natürlich kann das Leid der Zwangsarbeiter nicht wirklich wiedergutgemacht werden. Entscheidend war das Bemühen, den noch lebenden früheren Zwangsarbeitern nach 60 Jahren wenigstens eine Geste der Anerkennung zukommen zu lassen.“Dennoch weiß Salm um die Bedeutung des Engagements seiner Stiftung gerade im humanitären Bereich. Daher fließen etwa ein Drittel der derzeitigen Zinserträge in solche Projekte: „Doch wir richten uns nach der Bedürftigkeit der Menschen. Und die ist in Russland, Weißrussland und der Ukraine größer.“ Die Stiftung werde deshalb eigenständig Drittmittel für humanitäre Hilfe bei der polnischen Regierung, deutschen Institutionen und der EU einwerben müssen, sieht der polnische Leiter Darius Pawlos die dringendste Aufgabe für die Zukunft seiner Stiftung. Józef Kuzba blickt auf die Uhr. Er muss nach Hause. Am Nachmittag wird er deutsche Jugendliche ins ehemalige jüdische Ghetto führen. Nach dem Krieg ist davon nicht viel übrig geblieben. Dass Ähnliches mit der Erinnerung geschieht, dagegen will er weiter kämpfen: „Es ist an der jungen Generation in Deutschland und Polen, die große Verantwortung der Geschichte gemeinsam zu tragen“, sagt er.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0