Russland

„Tschetschenien ist heutzutage stabil"

Europarat-Menschenrechtskommissar Hammarberg bescheinigt Russland Fortschritte in der Menschenrechtslage(n-ost) – Ende April reiste der Menschenrechtskommissar des Europarates, der Schwede Thomas Hammarberg, durch den Nordkaukasus. Während seines mehrtägigen Aufenthalts besuchte er Schulen und Krankenhäuser, sprach mit Bürgern sowie mit dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow und dessen inguschetischen Amtskollegen Murat Sjasikow. Zum Abschluss seiner Reise traf er mit Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew zusammen. Im Interview mit dieser Zeitung beurteilt Hammarberg die aktuelle Menschenrechtssituation in der Region.FRAGE: Herr Hammarberg, zuletzt waren Sie 2007 in Tschetschenien, nun erneut. Wie hat sich in diesem Jahr die Lage entwickelt?HAMMARBERG: Es gibt positive Entwicklungen, der Wiederaufbau schreitet voran. Die Renovierung von Krankenhäusern und Schulen ist erfreulich. Grosnyj sieht immer weniger aus wie eine Geisterstadt. Eine gute Entwicklung im Vergleich zu meinen zwei vorangegangenen Reisen ist außerdem, dass es keine neuen Berichte über Folter und Entführungen gab. Mit anderen Worten: Es scheint, als gäbe es einen Wandel bei den Verhörmethoden, was positiv ist. Ein großes Problem bleibt jedoch weiterhin bestehen: Der Umgang mit der Vergangenheit. Viele Familien in der Region haben Angehörige verloren, sie sind „verschollen“. Wir vermuten, dass viele dieser Entführten ermordet und in einem der vielen Massengräbern begraben wurden. Bislang wurden mehr als 50 solcher Begräbnisstätten ermittelt.FRAGE: Was muss mit diesen Massengräbern geschehen?HAMMARBERG: Die Gräber müssen geöffnet und die sterblichen Überreste mittels DNS-Tests untersucht werden. Sie sollten mit der DNS von Familienangehörigen verglichen werden, um so ihre Identität festzustellen. Viele Familien, die Angehörige verloren haben, wollen wissen, was mit ihnen geschehen ist.FRAGE: Unterstützt der Westen diese Arbeit?HAMMARBERG: Es gab den Beschluss der EU, Geld für ein forensisches Labor für die DNS-Tests zur Verfügung zu stellen. Das war ein Angebot der EU, allerdings sagen die russischen Behörden, dass sie die finanzielle Unterstützung nicht mehr benötigen. Sobald das Problem ernsthaft angegangen und dazu Wissen internationaler Experten benötigt wird, beispielsweise von einem vergleichbaren Projekt in Bosnien, glaube ich, dass die internationale Gemeinschaft sich an der Arbeit beteiligen würde. Entscheiden müssten dies aber die russischen Behörden.FRAGE: Offiziellen Angaben zufolge werden noch immer 4.300 Menschen vermisst. Was schätzen Sie, wie viele von ihnen sind noch am Leben?HAMMARBERG: Über die Anzahl der Vermissten gibt es verschiedene Angaben. Die Zahlen, die ich gehört habe, liegen zwischen 3.000 und 4.000. Es gibt Gerüchte, dass manche in ein anderes Land geflohen sind, aber es ist am wahrscheinlichsten, dass die überwältigende Mehrheit der vermissten Menschen bedauerlicherweise nicht mehr am Leben ist. Besonders schwer für die Angehörigen ist jedoch die Ungewissheit über das Schicksal der Vermissten. Das ist der Grund, warum dringend etwas getan werden muss.FRAGE: In der Hauptstadt Grosnyj haben Sie auch das einst berüchtigte Untersuchungsgefängnis ORB-2 besucht, das dem russischen Innenministerium untersteht. Bei Ihrem vergangenen Besuch berichteten Häftlinge über Misshandlungen. Besteht dieses Problem weiterhin?HAMMARBERG: Es gibt mittlerweile eine neue Gefängnisverwaltung und ich habe den Eindruck, dass in der Haftanstalt keine Foltermethoden mehr angewandt werden. Das sagte mir die Gefängnisverwaltung sehr deutlich. Auch die Inhaftierten, mit denen ich jetzt gesprochen habe, erklärten, es gebe keine Folter mehr. Ein Problem bleibt allerdings weiter bestehen: Es gibt Menschen, die auf der Basis von Geständnissen verurteilt wurden, die unter Zwang entstanden sind. Diese Gerichtsurteile sollten überprüft werden.FRAGE: Wie frei waren Ihre Gespräche mit den Gefängnisinsassen?HAMMARBERG: Es gab vertrauliche Gespräche mit den Inhaftierten, bei denen keine Gefängniswärter anwesend waren.FRAGE: Die Situation in Tschetschenien verbessert sich, dafür verschlechtert sich offenbar die Lage in den Nachbarrepubliken. Von dort gibt es regelmäßige Berichte über Schießereien und Entführungen.HAMMARBERG: Tschetschenien ist heutzutage die stabilste Republik im Nordkaukasus. Schlimmer ist hingegen die Situation in Inguschetien und in Dagestan. Dort gab es Rebellenaktionen, auf die die Sicherheitskräfte mit Methoden reagiert haben, die zu Kollateralschäden führen. Die Situation ist zerbrechlich. Es besteht das Risiko, dass es zu einem Teufelskreis der eskalierenden Gewalt kommt.FRAGE: Sie haben später in Moskau den alten und den neuen Präsidenten Russlands, Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew, getroffen. Putin reagiert mitunter empfindlich, wenn das Ausland Menschenrechtsverletzungen kritisiert.HAMMARBERG: Es gab zwei Arbeitstreffen, die jeweils eine Stunde dauerten. Das waren sehr fundierte Gespräche, beide hörten aufmerksam zu und reagierten. Vor den Gesprächen gab mir Außenminister Sergej Lwarow ein 275-Seiten starkes Dokument zu unseren vorangegangenen Empfehlungen an die russische Regierung. Dies muss als grünes Licht für einen ernsthaften Dialog betrachtet werden.FRAGE: In Russland ist häufig von einer „russischen Form der Demokratie“ die Rede. Gibt es auch eine russische Definition der Menschenrechte?HAMMARBERG: Russland hat die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert, also hat dieser Vertrag auch als russische Definition des Menschenrechtsbegriffs zu gelten. Das russische Gesetz stimmt auch mit der Europäischen Konvention überein – bis auf einen Punkt: Russland hat die Todesstrafe noch nicht abgeschafft. Allerdings besteht ein Moratorium, das bedeutet, dass derzeit niemand hingerichtet wird. Dennoch erwarten wir von Russland, diese Strafe auch aus dem Gesetzbuch zu streichen.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87


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