Russland

EUROPA-SKEPTIKER LIEGEN IN SERBIEN VORN

Radikale wollen nach der Wahl mit „verräterischen Medien“ abrechnen (n-ost) – Als strahlender Sieger erschien Boris Tadic nach den knapp gewonnenen Präsidentschaftswahlen im Februar. Doch schon jetzt, wenige Monate später, ist nicht gewiss, ob er die vorgezogenen Parlamentswahlen am Sonntag politisch überlebt. Die öffentlichen Spekulationen um die Zukunft des pro-europäischen Präsidenten und um den fraglichen Weg des Landes nach Europa reißen nicht ab. Seine Gegner, allen voran der national-konservative Ministerpräsident Vojislav Kostunica sowie der Radikale Tomislav Nikolic (SRS), werfen ihm Verrat vor, weil er Ende April in Brüssel das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) mit der EU unterzeichnet hat. Der Präsident erhält anonyme Morddrohungen. Dragan Sutanovac, Verteidigungsminister aus Tadics Partei, erklärte, solche Hassreden stellten faktisch eine Ausschreibung für einen neuen Scharfschützen dar, der das Urteil vollstrecken solle. Kostunica macht keinen Hehl daraus, dass er das SAA-Abkommen für Betrug halte, mit dem man die Abtretung Kosovos legalisiere. Der Premier kündigte sogar an, nach den Wahlen das Abkommen im Parlament für nichtig zu erklären. Seine Haltung hinsichtlich Kosovo unterscheidet sich demnach keinen Deut von der der Radikalen. Doch das sind genau jene Radikalen, die Kostunica unter der Regie des inzwischen ermordeten Ministerpräsidenten Zoran Djindjic im Jahr 2000 ebenso gestürzt hat wie Milosevics Sozialisten. Das sind auch jene Radikalen, deren Vorsitzendem Vojislav Seselj gerade in Den Haag der Prozess als angeklagter Kriegsverbrecher gemacht wird. Inzwischen jagt Kostunica jedoch selbst im traditionell nationalistischen Revier.Die lebende Legende der serbischen Demokratiebewegung, der Gründer der Demokratischen Partei Dragoljub Micunovic, kritisierte, die führenden Personen der Gruppierung um Kostunica seien zu größeren Anti-Europäern geworden als die Radikalen. Dadurch hätten sich die Chancen erschwert, mit der demokratischen Partei (DS) nach den Wahlen über eine Regierungsbildung zu verhandeln. Der Staatspräsident und Parteivorsitzende Tadic spitzte bei der Abschlusskundgebung seiner Partei am Mittwoch im Zentrum Belgrads den Gedanken zu: „Nicht der Mann wird in Serbien Regierungschef werden können, der Intrigen spinnt und Angst verbreitet.“ Er habe eine Botschaft für den Parteichef der Demokratischen Partei Serbiens (DSS), den derzeitigen Ministerpräsidenten Kostunica: „Er wird nie mehr Regierungschef sein, genau wie dieser Posten dem Radikalen Nikolic niemals gehören wird“.Obwohl Nikolics Radikale in den Umfragen führen, bewegen sie sich in den letzten Tagen immer weiter in die rechte Ecke. Erst kürzlich glänzte die Bürgermeisterin von Zemun, Gordana Pop-Lazic (SRS), auf einer Wahlkampfveranstaltung mit der Ankündigung, dass die Radikalen früher oder später mit den „verräterischen Medien“ und mit den ausländischen Organisationen, die diese unterstützten, „abrechnen“ würden.  Ein Vergleich der Wahlkampfslogans kann grob auf den Nenner„Europa versus Serbien“ gebracht werden: Kostunicas Demokratische Partei Serbiens wirbt mit „Unterstützt Serbien!“, die Radikalen fordern: „Vorwärts Serbien!“ und die Sozialisten gehen mit „Steh auf Serbien!“ auf Stimmenfang. Auf der anderen Seite stehen der Zusammenschluss „Für ein europäisches Serbien – Boris Tadic“ und die Parole der Liberal-demokratischen Partei (LDP) Cedomir Jovanovics: „Serbien ohne Grenzen“. Gemeint ist damit ein Serbien innerhalb Schengens. Sämtliche Wahlprognosen gehen davon aus, dass am Sonntag die serbischen Kosovo-Patrioten die politische Oberhand im Parlament gewinnen. Eine Umfrage der Tageszeitung „Politika“ am gestrigen Donnerstag sieht die Radikalen mit 37,3 Prozent vorn, gefolgt von Tadic mit 35,9 Prozent. Auf dem dritten Platz liege Kostunica mit 11,0 Prozent. 6 Prozent kämen auf Cedomir Jovanovics LDP und 5,4 Prozent auf die Sozialisten, die sich mit der Rentnerpartei zusammengetan haben. 4,4 Prozent entfielen laut „Politika“ auf Minderheiten und andere Parteien. Die Boulevard-Tageszeitung „Blic“ kommt aufgrund der Umfragen der Meinungsforschungsinstitute Cesid und Gallup auf ähnliche Ergebnisse: Die Radikalen lägen mit 34,2 Prozent vorn, an zweiter Stelle mit 32,8 Prozent Tadics „Für ein europäisches Serbien“ sowie Kostunicas Bündnis mit 11,5 Prozent. Den Liberalen prognostiziert „Blic“ 6,2 Prozent, den Sozialisten 7,6 Prozent.Die serbischen Wettbüros jedenfalls, deren Prognosen fast ebenso zuverlässig sind, wie die Umfragen der großen Agenturen, sehen einen Sieg der Radikalen voraus. Am reichsten könnten also theoretisch diejenigen werden, die auf Jovanovic (LDP) als Ministerpräsidenten setzen. Der Grund: Dies ist unter allen Kombinationen eine der unwahrscheinlichsten, da sich Nikolic, Kostunica und Tadic zumindest in der Ablehnung der europafreundlichen LDP einig sind. Ob Kostunica aus den Wahlen einmal mehr als Königsmacher hervorgehen oder, wie eine Tageszeitung kürzlich titelte, in Rente gehen wird, ist noch unklar. Jedenfalls ist die heiße Phase des serbischen Wahlkampfs, gespickt mit gegenseitigen Drohungen und medienwirksamem Machtgebaren, nun zu Ende. Im Parlamentswahlkampf genauso wie im parallel dazu stattfindenden kommunalen Wahlkampf und in der Schlacht um den Posten des neuen Bürgermeisters der Hauptstadt Belgrad. Zur Zeit führt dabei in einem Kopf-an-Kopf Rennen der Kandidat der Demokraten, Dragan Djilas, vor dem der Radikalen, Aleksandar Vucic. Djilas verspricht ein europäisches Belgrad samt entsprechender Infrastruktur. Allerdings wirft man ihm Korruption vor: „Djilas ist ein Taikun“ ist in Anspielung auf das englische „Tycoon“ als Graffiti in mehreren Belgrader Stadtvierteln zu lesen. Sein jüngerer Opponent, der scharfzüngige Nationalist Vucic, gibt sich modern. Sein Zehn-Punkte-Programm ist eine Liste dessen, was man in Belgrad gerne hören möchte: 25.000 neue Wohnungen für junge Ehepaare verspricht Vucic ebenso wie zwei neue Brücken über Save und Donau gegen das alltägliche Verkehrschaos, mehr Kindergärten, eine bessere medizinische Infrastruktur und drogenfreie Schulen, drastische Strafen für die Verunreinigung der Stadt sowie die Legalisierung der ohne Genehmigung gebauten Gebäude. Letzteres tangiert fast die halbe Stadt. Dass Pikante bei der Bürgermeisterwahl ist, dass Belgrader Bürger zwar den Bürgermeister wählen können, die Mehrheit im Stadtparlament aber darüber entscheiden wird, welcher Kandidat letztendlich siegt. Doch der kommunale Wahlkampf ist wegen des richtungweisenden Charakters der Parlamentswahlen allenfalls zum interessanten Nebenschauplatz geworden.
 
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