Russland

Sibirische Spaßguerilla

800 Jugendliche kritisieren in Nowosibirsk die russische Gesellschaft mit kreativen Mitteln (n-ost) - Am 1. Mai – dem Tag der Arbeit – ruft in Russland traditionell die Kommunistische Partei ihre Anhänger auf, mit roten Flaggen durch die Straßen zu ziehen. So auch in Nowosibirsk, wo alljährlich immer noch mehrere tausend Kommunisten den „Roten Prospekt“ entlang zum „Leninplatz“ marschieren. Doch weitaus mehr Aufmerksamkeit als die rot Beflaggten erzeugt seit einigen Jahren eine bunte Gruppe aus Künstlern und Studenten, die direkt dahinter demonstriert. Besser gesagt „monstriert“, denn die Vorsilbe „de“ hat in den Augen der Künstler etwas destruktives.2004 rief die Künstlergruppe CAT (Contemporary Art Terrorism) erstmals zur „Monstration“ auf. CAT agierte an der Grenze zwischen moderner Kunst, Politik und dem Leben an sich. Politische Aktionen wollten die Initiatoren ausdrücklich vermeiden. Dementsprechend wurden alle Interessierten per Internet dazu aufgerufen, zur offiziellen Demonstration am 1. Mai mit Plakaten zu erscheinen, die persönliche Emotionen und Gefühle ausdrücken: „A-a-a-a-ach!!!“, „O-o-o-o-och!!!?“ oder „Sehr gut!“ Alle politischen Losungen und Parolen, die einen Sinn haben, wurden hingegen abgelehnt: „Je weniger sinnvoll, desto monstrativer“, hieß es im Aufruf.
Auch Verkleidungen wie bei dieser Gruppe Ärzte sind erlaubt.
FOTO: Norbert SchottDie Gruppe CAT ist längst Geschichte, doch die Monstration hat überlebt. Nachdem im ersten Jahr etwa 100 junge Leute mit emotionalen aber keinesfalls sinnvollen Plakaten durch die Straßen zogen, kamen in den Folgejahren stets mehr und mehr Anhänger dieser freien Meinungsäußerung.Stets wird die Monstration durch etliche Sicherheitskräfte begleitet – nahezu jedes Jahre kommt es mit fadenscheinigen Begründungen zu Festnahmen. 2004 forderte die Polizei beispielsweise eine schriftliche Erklärung, dass das Plakat „Tanja, weine nicht!“ kein Aufruf zum Verfassungssturz darstellt. Fünf Teilnehmer wurden zur Zahlung von je 500 Rubel (15 Euro) Strafe verpflichtet. Als Zeichen des Protests bezahlten sie die Strafe komplett in Kopeken. Grundsätzlich hält sich die Polizei jedoch zurück – Bilder von gewaltsamen Randalen oder Einsätze der radikalen russischen OMON-Spezialeinheiten wie in anderen Städten hat es in Nowosibirsk nie gegeben.
„Ich mag Schnee im Mai!“, links der Hinweis „Das war meine Idee.“
FOTO: Norbert SchottIn diesem Jahr rief Artjom Loskutow – Aktivist der ersten Stunde – zum fünften Mal zur Monstration auf. Nach Angaben der Polizei kamen 500 Teilnehmer, Artjom Loskutow hingegen schätzt, dass es „in jedem Fall mehr als in den Vorjahren“ waren – wohl rund 800. Die anwesende Presse freute sich wieder über die bunten Bilder wild kostümierter Demonstranten, die sie den monotonen Kommunisten entgegen setzten konnten. Mit den Jahren häufen sich Plakate, die durchaus eine politische Aussage haben, wie „Gept uns kostenlohse Billdung“ (frei übersetzt) 2006. Der Spruch des größten Plakates in diesem Jahr lautete: „Belehrt uns nicht, sonst belehren wir Euch!“ – laut Artjom Loskutow ein Aufruf zur unbegrenzten Entfaltung aller. Solche Forderungen, die nicht mehr nur Emotionen ausdrücken sondern eher politischen Charakter haben, rufen jedoch bei einigen Aktivisten Widerspruch hervor.Aber eine Aussage scheint unvermeidlich. Schon 2006 versuchten die Kommunisten, sich mit den Monstranten zu schmücken. Einige Festgenommene wurden ausgerechnet auf Intervention des lokalen kommunistischen Duma-Abgeordneten Anatoli Lokot freigelassen, welcher öffentlich um Verständnis für die jungen Leute und ihre politische Meinungsfindung warb. Putins Anhänger von der Partei Einiges Russland wiederum freuen sich, dass die Monstranten mit ihren Plakaten die Kommunisten parodieren würden.
„Denke global, handle idiotisch!“
FOTO: Norbert SchottDoch beide Parteien scheinen nicht im Recht zu sein – Artjom Loskutow will sich jedenfalls von niemandem vereinnahmen lassen. Da er dank der freien Organisationsform auch keinerlei Einfluss auf die anderen Teilnehmer hat, ist ein konkretes Ziel vollkommen ausgeschlossen. Sprechchöre der diesjährigen Kundgebung zeigen dies: „Was ist das?“, „Wie kannst Du nur?“ oder „Gib mir einen Marienkäfer!“Dieses Unberechenbare gefällt auch Konstantin Skotnikow – einem stadtbekannten Künstler, der sich auch als Kurator von CAT engagierte: „Das Schöne ist, dass sich das alles selbst organisiert. Nichts ist vorbereitet!“ Damit zielt er auf die Kommunisten, welche die Plakate für ihre Demonstranten bereitstellen. Die Monstranten hingegen malen selbst, meist wenige Stunden vor der Aktion. Davon zeugt auch ein Plakat aus diesem Jahr: „Ich mag Schnee im Mai!“ – am Vortag hatte es unerwartet noch einmal geschneit, und am 1. Mai wurden die Reste für eine spontane Schneeballschlacht bei Sonnenschein genutzt!ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87


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