Eine deutsch-russische Brieffreundschaft
Olga aus Omsk und Marlies aus Bischofswerda haben sich nur einmal gesehen – schreiben sich aber seit fast 50 Jahren(n-ost) – Im Sommer 1960 kommt die Russisch-Lehrerin Fräulein Wielsch mit einem Stapel Briefe in eine sächsische Schulklasse und sagt: „Heute könnt ihr euch einen Brieffreund in Russland aussuchen.“ Die Lehrerin breitet die Briefe aus. Es schreiben zum Beispiel Lena aus Uljanowsk, Ljoscha aus Moskau und Olga aus Omsk.Marlies Klein aus Putzkau bei Bischofswerda in Sachsen, braun bezopft, blaues Halstuch der DDR-Pioniere, weiße Bluse, damals gerade elf Jahre alt, nimmt sich einen Zettel von dem Stapel. Ihre Lehrerin übersetzt für sie. Die elfjährige Olga Michlik aus Omsk wird Marlies neue Brieffreundin. Sie schreibt sofort in ihrer schönsten Schreibschrift auf kariertem Papier: „Ich habe mich gefreut, überhaupt erst einmal einen Brief von einem ausländischen Pionier zu erhalten. In unserer Pioniergruppe geht es gut voran. Laß auch bitte bald was von dir hören.“ Das war am 22. September 1960.
Brieffreundin Olga Filina aus Omsk
FOTO: Christina WittichHeute ist dieser erste Brief aus dem sächsischen Putzkau schon vergilbt. Aber Olga hat ihn in Folie verpackt und in einen roten Schulordner geheftet. „God 1960. Pismo pervoe“ steht in geschwungener roter Schrift am Kopf. „1960. Erster Brief.“ Es sollte nicht der letzte sein: In den vergangenen 48 Jahren gingen mehr als eintausend Briefe von der DDR in die UdSSR, von Deutschland nach Russland, von Sachsen nach Sibirien, über den Ural und zurück.Sorgfältig sammelte und ordnete Olga, die heute den Nachnamen Filina trägt, ihre Zeugnisse der deutsch-russischen Freundschaft. Aufgeregt sitzt sie in einem Café im Zentrum von Omsk. In den Briefen zu blättern ist wie in einem handgeschriebenen Geschichtsbuch des Alltags zu lesen. Politik spielt darin keine Rolle, nur das, was sie anrichtet. Zu Beginn schreibt Marlies noch in einem Mischmasch aus Russisch und Deutsch, später nur noch Deutsch. Die Kinder tauschen sich aus über die Schule. Marlies schickt ihre Zensuren – „Gesamtverhalten: 1, Werken: 3“. Als sie das rote Pionierhalstuch verliehen bekommt, verschenkt sie ihr blaues nach Russland. Später geht es um die Renovierung der neuen Wohnung und die Familie: „Bei uns kann man nach der Geburt des 2. Kindes ein Jahr zu Hause bleiben. Ich bekomme ein halbes Jahr meinen vollen Verdienst und ein halbes Jahr 70 Prozent vom Verdienst. Das ist sehr schön“, schreibt die Deutsche 1981.Im Laufe eines knappen halben Jahrhunderts machten beide ihren Abschluss, lernten Berufe – Olga wurde Deutsch- und Französischlehrerin, Marlies arbeitete bei der Stadt Bischofswerda. Die Frauen heirateten, sie zogen um, bekamen Kinder. Kommunismus, Perestroika, Wende, Mauerfall, wechselnde Männer an der Macht, neue Moden, neue Frisuren, neue Filme, Musik, Krankheiten, Todesfälle, Urlaube und immer wieder das Wetter – Geschichte wurde geschrieben, das Leben ging weiter und änderte sich, nur die Brieffreundin aus Kindertagen, die war immer dabei, die kam immer mit.Gesehen haben sich die beiden nur einmal in ihrem Leben. Vor 34 Jahren fand ein beinahe konspiratives Treffen in Dresden statt. Olga holt eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus ihrer Tasche: Eine Blondine sitzt neben einer Brünetten auf einem Brunnenrand. Marlies ist die Brünette. „Ich bin extra mit dieser Delegation mitgefahren, weil ich meine Freundin unbedingt einmal sehen wollte“, sagt Olga Filina. Damals, 1974, reiste ihre Gruppe von Berlin nach Dresden. Die Frauen hatten sich verabredet, die Organisatoren änderten jedoch die Zeitpläne. Es war die Reiseleiterin, die Verständnis für ihr sehr aufgeregtes Mitglied der Delegation hatte. Sie rief im Rathaus Bischofswerda an, wollte Marlies Meißner erreichen. Die hatte Urlaub. Mitarbeiter fuhren hin, sagten Bescheid und die Familie Meißner setzte sich sofort in ihren Moskwitsch und fuhr nach Dresden. „Ich habe in allen Hotels in Dresden kleine Zettel hinterlassen, auf denen stand, wo ich bin“, sagt Olga Filina. „Wir wussten nicht mehr weiter, da sehen wir eine große Menschengruppe am Goldenen Reiter. Jemand rief ‚Hallo Marlies’“. Geweint hätten sie, als sie sich endlich trafen, erinnert sich die Russin.Auch jetzt weint sie fast, setzt kurz ihre Brille ab, wischt die Augen und erzählt weiter. „Wir waren dann zusammen in Galerien, aber ich habe nur Marlies gesehen.“ Den russischen Konsul ruft sie an und fragt, ob sie mit ihrer deutschen Freundin den Tag verbringen darf. Sie darf und fährt mit ihr nach Bischofswerda. Olga wird der Familie, den Freunden, den Nachbarn, allen, die greifbar sind, vorgestellt. Es gibt Geschenke „und überall Apfelsaft“, sagt sie. „Das ist Olga aus Omsk. Apfelsaft. Das ist Olga aus Omsk. Apfelsaft.“Marlies Meißner und Olga Filina sehen sich danach nie wieder. „Für uns war es nach der Wende eine kritische Zeit, vor allem finanziell“, erinnert sich die heute 59-jährige Marlies Meißner in Bischofswerda. „Mein Mann war auf Kurzarbeit und mein Sohn hat nach einer Lehrstelle gesucht.“ Olga Filina war später noch dreimal zum Schulaustausch in Frankfurt am Main. Aber im Hause Meißner war für eine Bahnfahrt dorthin nicht ausreichend Geld vorhanden: „Mit leeren Händen wollte ich doch auch nicht hinfahren“, sagt Marlies. Also blieb sie zu Hause, schickte Päckchen, schrieb Briefe und telefonierte mit der Freundin in Russland. Mittlerweile reist weniger Post von West nach Ost, von Ost nach West. Es gibt ja das Internet. Die beiden Frauen schicken sich Emails und berichten einander wie eh und je vom Alltag: „Wir unterhalten uns zum Beispiel über Gewichtsprobleme“, sagt die 59-jährige Sächsin und lacht. „Wer wann abgenommen, wieder zugenommen und wieder abgenommen hat. So was eben.“ Eines Tages möchte sie gern nach Sibirien reisen. „Komme im Winter, das ist viel interessanter“, hatte ihr Olga einmal gesagt. Marlies Meißner denkt darüber nach – und hört dabei russische Volksmusik: „Wenn die Don Kosaken in unsere Gegend kommen, gehe ich immer hin.“In Omsk gibt es keine Don Kosaken. In Omsk wartet Olga. „Marlies ist wie eine Schwester für mich“, sagt sie und trinkt endlich einen Schluck vom Sahne-Capuccino. Obwohl schon in Rente arbeitet sie noch als Lehrerin. Die Briefe aus Deutschland setzt sie im Unterricht ein – als Beweis für gelungene Völkerverständigung. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87