Deutschland

Von Kämpfern und Luschen

Matschiges Eis auf den Straßen, es schneit. Nicht in der Lausitz, der derzeitigen Bühne des 21. Cottbuser Filmfestival, eines der größten Festivals des osteuropäischen Films weltweit. Nein, in Almaty, dem Schauplatz des ersten Cottbuser Wettbewerbsfilmes „Sonnige Tage“. Darin erzählt Regisseur Nariman Turebayev in unaufgeregten, langen Kameraeinstellungen von einem 29-Jährigen, dessen Leben ganz allmählich, aber stetig, aus den Fugen gerät: Da ist die Freundin, die die ihn zum Teufel jagt, der Vermieter, der den Strom abstellt und der beste Kumpel, der ihm die Freundschaft kündigt. Aber weder ein gut bezahlter Aushilfsjob noch der Notanruf bei der Mutter vermögen ihn zu retten. Alles, was er anfasst, missrät – auch an seinem 30. Geburtstag, den er mit derselben Gleichgültigkeit erträgt wie sein restliches Leben. Der einsame Mann betrinkt sich und torkelt seinem Schicksal entgegen – ohne beim Publikum große Empathie zu wecken.

Dabei ist er in guter Gesellschaft: Auch seine Geschlechtsgenossen aus Georgien, Rumänien oder Polen scheinen ohnmächtig, dem Schicksal ausgeliefert. Da ist der Mittdreißiger Niko, der ebenfalls ohne sichtbare Gefühlsregungen sein Dasein erduldet. Der abchasische Flüchtling war im Krieg, jetzt ist er Polizist in einem georgischen Küstenort. Er trifft sich mit der fleißigen Kellnerin Nana. Versprechungen oder Liebesschwüre kommen ihm nicht über die Lippen. Dann wird er versetzt. Niko sagt Lebewohl, setzt sich ins Auto und fährt davon. „Salz weiß“ heißt dieses ruhig wie das Schwarze Meer vor sich hin rauschende Gesellschaftsporträt von Keti Machavariani. Wie auch die Regisseurin von „Sonnige Tage“ verzichtet sie auf Spannungsmomente und zeichnet so ein Land im Umbruch, dessen Bewohner ihren Platz im Leben suchen.

Den haben die Familien im dem polnischen Streifen „Lynchen“ bereits gefunden. Sie könnten ruhig fernab der Großstadt leben, wäre da nicht Zbysek Jagoda. Mehrfach vorbestraft, terrorisiert der Alte die Gemeinde, prügelt Frauen rollstuhlreif und sticht mit seinen langen Messern auf alles ein, was sich ihm in den Weg stellt. Auch die lokale Polizei ist machtlos. Mit nur einem Auto und viel zu wenig Personal kann sie den umherstreunenden Obdachlosen nicht stellen. Die Männer haben Angst um Frauen und Kinder. Verzweifelt greifen sie sich Werkzeuge und Spaten – und verüben Selbstjustiz.

Krzysztof Lukaszewicz macht mit geschickt gesetztem Licht den Kontrast zwischen Idylle und Terror erlebbar und zeichnet in teils brutalen Bildern einen der aufwühlendsten Fälle der polnischen Justizgeschichte nach. Auch heute noch spaltet die Begebenheit aus dem Sommer 2005 die polnische Gesellschaft: Hatten die Dorfbewohner eine andere Wahl?

Diese Frage interessiert den sachlich arbeitenden Staatsanwalt in dem Film nicht. Er will allein die Täter hinter Schloss und Riegel bringen. Schließlich ist Polen ein Rechtsstaat, und auch hinter dem übelsten Charakter verbirgt sich ein Mensch, dessen Leben nicht angetastet werden darf.

Auch nicht zu seinem eigenen Schutz? Diese Frage verneinen die Behörden in der außergewöhnlichen und sehr ergreifenden rumänisch-polnischen Koproduktion „Crulic“. Ohne teure Effekte rekonstruiert Anca Damian mit Hilfe geschickt kombinierter unterschiedlichster Animationstechniken, Fotos und Realbilder das kurze Leben des Claudiu Crulic. Das ist nicht nur visuell sehr spannend, auch der Inhalt weckt beim Publikum das Interesse nach mehr. Denn der Rumäne starb im Alter von nur 33 Jahren nach einem Hungerstreik in einem polnischen Gefängnis. Was war geschehen? Nachdem 2007 ein renommierter polnischer Richter ausgeraubt und um 500 Euro erleichtert worden war, wurde Claudiu Crulic aufgrund eines Fotos als Täter identifiziert und verhaftet. Aber obwohl er die ganze Zeit beteuert hat, zur Tatzeit nachweislich in Italien gewesen zu sein, will niemand dieser Aussage Gewicht verleihen. Die polnische Justiz schlampt, entlastende Indizien werden nicht ausreichend überprüft, und als sich Crulics Zustand dramatisch verschlechtert, reagieren Ärzte und Behörden erst gar nicht – und dann zu spät. Ein starker Anwärter auf die gläserne Lubina, der dem Opfer posthum die Aufmerksamkeit schenkt, die ihm die Behörden zu Lebzeiten versagt haben.


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