Blutige Rosen im Asphalt
„Wie Tiere haben wir gelebt, eingeschlossen in einem Keller vier Jahre lang!“, erinnert sich Nera an die Belagerung ihrer Heimatstadt Sarajevo. „Unsere Kinder haben fast nie das Tageslicht gesehen“, sagt die 50-Jährig, „wir hatte Angst, sie draußen spielen zu lassen – wegen den Heckenschützen“. Heute betreibt Nera in der bosnischen Hauptstadt das Hotel „Kod Keme“.Vor genau 16 Jahren hatte die jugoslawische Volksarmee in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1992 die Belagerung Sarajevos begonnen. Zwischen Bosniern dreier Konfessionen – den orthodoxen Serben, den katholischen Kroaten und den bosnischen Muslimen – war ein Bürgerkrieg ausgebrochen, als die internationale Gemeinschaft Bosnien-Herzegowina als unabhängigen Staat anerkannte. Mit einer Dauer von 1425 Tagen war die Belagerung Sarajevos die längste des 20. Jahrhunderts, sie endete am 29. Februar 1996. Vier Jahre lang erlebten die Einwohner der Stadt einen schwer vorstellbaren Alptraum. Mehr als 300 Granaten schlugen während dieser Zeit täglich in der Innenstadt ein. 11.000 Menschen starben, unter ihnen 1.600 Kinder, mehr als 50.000 Personen wurden teilweise schwer verletzt.
Die Altstadt von Sarajevo - heute wieder Touristenmagnet / Chrissi Wilkens, n-ost
„Es ist ein Wunder, dass wir nicht alle den Verstand verloren haben“, sagt Nera bitter lächelnd und mit tieftraurigen Augen. „Anfangs fand meine Familie im Keller des Hotels Zuflucht“, erzählt sie. „Dann kamen noch weitere 28 Leute aus der Nachtbarschaft, die nirgends sicher waren. Am Ende saßen wir uns alle auf der Pelle. Wir lebten ohne Strom, ohne Wasser, ohne Würde.“
Um zu überleben, improvisierten die Einwohner Sarajevos. Sie legten auf den Balkonen ihrer Wohnungen kleine Obst- und Gemüsegärten an, bastelten Holzöfen und Lampen zusammen und ernährten sich von den Paketen des Roten Kreuzes. Heute, 16 Jahre danach, erinnert fast nichts mehr an diese schwere Zeit. Zumindest nicht im türkischen Altstadtzentrum Bascarsija, in dem das kleine Hotel von Nera liegt. In Bascarsija schlägt heute das Herz des Nachkriegs-Sarajevos. Westliche Touristen, die die Stadt in immer größerer Zahl wiederentdecken, schieben sich durch die engen Gassen, probieren die traditionellen Cevapcici. Einheimische entspannen sich in Straßencafés.Doch die Stadt trägt einen unsichtbaren Trauerflor, der die Wunden des Krieges nur auf den ersten Blick bedeckt. Jede Ecke der Stadt erzählt die Geschichte der Gewalt. Auf fast jeder Straße finden sich Spuren explodierter Granaten im Asphalt. „Rosen von Sarajevo“ nennen sie die Einheimischen, weil viele von ihnen die Form einer Blume haben und mit roter Farbe gefüllt wurden, zum Gedenken an diejenigen, die an dieser Stelle getötet wurden. An den Wänden vieler Gebäude Sarajevos sind nach wie vor Einschusslöcher und Granatkrater zu erkennen, die Besucher und Einwohner der Stadt an ihre tragische Vergangenheit erinnern.
„Rosen von Sarajevo“ / Giorgos Zacharopoulos, n-ost
An anderen Stellen gleichen hochmoderne Neubauten inzwischen denen in westlichen Hauptstädten. Bald soll mit dem 144 Meter hohen Avas Twist Tower das höchste Gebäude des Balkans in Sarajevo stehen. An der einst schwer umkämpften Hauptstraße erinnert fast nichts mehr an den Krieg. Das Holiday Inn-Hotel – damals die Basis der ausländischen Journalisten – ist frisch renoviert und auch den beiden Regierungsgebäuden, die durch der Kämpfe schwer beschädigt wurden, sieht man nicht mehr viel an. Während der Belagerung rasten Autos und Menschen blitzschnell durch diese Straße, um den serbischen Heckenschützen zu entkommen. Sie wird deshalb bis heute „Allee der Scharfschützen“ genannt.Nicht nur das zeigt, dass der Krieg in den Herzen vieler Familien noch lange nicht zu Ende ist. 5.400 Kinder leben in Sarajevo, die Mutter oder Vater im Krieg verloren haben, 400 sind Vollwaisen. 13.500 Menschen in ganz Bosnien gelten immer noch als vermisst. Ihre Leichen zu finden und zu identifizieren, versucht die Internationale Kommission für Vermisste (ICMP), die in Sarajevo sitzt. In den Labors der Kommission liegen fast 25.500 einzelne Knochen, die in Massengräbern auf dem Gebiet des gesamten ehemaligen Jugoslawien gefunden wurden. Und hinter jedem dieser Knochen steckt eine Geschichte von Trauer und Hoffnung. Wie die von Mirjana Simanic, die erst vor einem Jahr die sterblichen Überreste ihres Mannes gefunden hat. Er war serbischer Soldat. „Ich habe Glück gehabt“, sagt Mirjana, „andere Frauen hatten nie die Möglichkeit, ihre Ehemänner zu begraben.“Doch Bosnien-Herzegowina muss sich nicht nur emotional mit den Folgen des Krieges auseinandersetzen, sondern auch praktisch. Es ist das Land mit den meisten ungesicherten Minen in Europa. Fast vier Prozent seiner Fläche sind mit Minen verseucht. Vor wenigen Tagen erst starben drei Menschen bei dem Versuch, ein Minenfeld zu sichern.
Rund 4 Prozent der Gesamtfläche Sarajevos sind noch immer vermint. / Giorgos Zacharopoulos, n-ost
Hinzu kommen die Schwierigkeiten im Zusammenleben der drei verschieden Volksgruppen (Serben, Kroaten, Muslime). Auch zwölf Jahre nach dem Krieg ist eine tolerante Nachbarschaft insbesondere zwischen Serben und Muslimen nahezu unmöglich. „Bis heute ist nichts unternommen worden, um die drei Volksgruppen näher zu bringen“, beschwert sich die 31-jährige Amela in gutem Deutsch. Die Muslimin hat in Deutschland studiert und ist nun in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. „In unserer Verfassung ist nicht von ‚Bürgern’ die Rede, sondern von Serben, Kroaten und ‚Bosniaken’. Und was hier wann passiert, wird in Brüssel entschieden. Das ist doch keine Demokratie“, schimpft sie. Amela geht nicht gern in den serbischen Teil der Stadt. „Ich habe dort nichts zu suchen“, wehrt sie schroff jede Frage ab. Auch die 34-jährige bosnische Serbin Alexandra findet, dass zwischen den beiden Volksgruppen eine unsichtbare Trennlinie besteht. Die meisten Serben wohnen in Ost-Sarajevo, ein paar Kilometer außerhalb des Stadtzentrums, wo die serbische Republik „Republika Srpska“ beginnt. In die Innenstadt kommen sie nur zum Einkaufen. „Einmal saß ich dort in einem Café“, erzählt Alexandra. „Da fragte mich jemand nach dem Kreuz um meinen Hals und forderte mich auf, das Café zu verlassen.“ Die Serben in Ost-Sarajevo planen, ein 26 Meter hohes Kreuz aufzustellen, an jedem Ort, von dem aus serbische Soldaten während der Kämpfe auf Sarajevo geschossen haben. Sie sehen es als Denkmal für die serbischen Opfer des Bürgerkriegs. Für viele Einwohner der Stadt hingegen ist es eine höhnische Provokation.