Russland

Drogenentzug mit Gott

Im sibirischen Dorf Sosnowka bei Omsk bietet ein Ehepaar den Tausch Sucht gegen Glauben an(n-ost) - Heroin macht glücklich. Wird in jede Faser des Körpers gepumpt. Gibt einen Moment Ruhe und Wärme. Zufriedenheit. Heroin macht satt, lässt vergessen, macht gleichgültig. Heroin befreit und Heroin macht abhängig, unter Umständen bis zum Tod. Das Opiat bahnt sich seinen Weg von Afghanistan durch Russland bis nach Europa. In Sibirien, im Herzen Russlands, hat es Vitali gefunden und ist bei ihm geblieben. Jahrelang.Wie lange genau, kann der 35-Jährige gar nicht mehr sagen. Etwa 13 Jahre, meint er. Vitali hat in Starij Kirowsk gelebt, einem berüchtigten Stadtteil am Rande von Omsk. Vitali selbst war dort berüchtigt. Das sagt allerdings nicht er, das sagt sein Therapeut, der Seelsorger Franz Bleile. „Wir haben Chaos angerichtet“, sagt Vitali nur. Nicht groß gewachsen aber kräftig, dichte, dunkle Haare, der Gesichtsausdruck ein bisschen gequält, macht Vitali keine großen Worte. 30 Monate habe er im Gefängnis zugebracht, „wegen Diebstahls und Drogen“, sagt er und knetet seine Hände. Jetzt aber sei alles anders. Vitali hat Gott kennen gelernt und braucht nun kein Heroin mehr. Der Mann ist einer der ersten Patienten der Familie Bleile und so etwas wie ihr Vorzeigepatient: ein Verbrecher, der sich von den Drogen ab- und Jesus zugewandt hat. Seitdem Vitali, der stadtbekannte Kriminelle, bei ihnen zum guten Menschen geworden ist, rufen ständig Familien an und wollen ihre Söhne zur kostenlosen Rehabilitation nach Sosnowka schicken. „Mindestens zweimal pro Tag meldet sich jemand bei uns und will unsere Hilfe“, sagt Franz Bleile.
Der 35-jährige Vitali war 13 Jahre lang heroinabhängig.
Christina WittichDie Bleiles kommen aus Lüdenscheid im Sauerland. Franz Bleile, 41 Jahre alt, ist gelernter Feinmechaniker, Aurelle Bleile, ein Jahr jünger als ihr Mann, gelernte Krankenschwester. Gemeinsam mit ihrem zehnjährigen Sohn Benjamin lebt die Familie in einem Dorf nicht weit von Omsk. Sosnowka, übersetzt Kieferchen, heißt der 6000-Seelen-Ort, benannt nach den weiten umliegenden Wäldern. Seit etwa fünf Jahren lebt die Familie in Sibirien, seit drei Jahren in Sosnowka und seit etwa einem Jahr betreibt sie dort ihr Reha-Zentrum. 34 Drogenabhängige hätten sie in dieser Zeit aufgenommen, sagen die Bleiles. Ungefähr die Hälfte ihrer Patienten sei dabei geblieben und habe ein halbes Jahr Rehabilitation durchgehalten. Zwölf Patienten leben derzeit im Backsteinhaus in der sibirischen Steppe.In Russland warnt Fernsehwerbung vor den Folgen von Haschisch und Heroin. Private Kliniken und Hypnotiseure werben für einen schnellen Entzug. Bis 2010 veranstaltet die Stadt Omsk Kinotage gegen Drogen. Das Thema ist präsent. Trotzdem steigt die Zahl der Konsumenten. Die Zahl der Abhängigen, die sich 2007 freiwillig einer Therapie im Omsker Verwaltungsgebiet unterzogen haben, schätzt Larissa Tschaschtschina auf etwa 8600. Tschaschtschina ist Ärztin bei der regionalen Betreuungsstelle für Suchtkranke in Omsk. Die Zahl der Suchtkranken sei im Vergleich zu den Vorjahren gestiegen, sagt sie. Vermutlich, weil die Öffentlichkeitsarbeit von Nichtregierungsorganisationen die Hemmschwelle senke, sich behandeln zu lassen. Die Dunkelziffer der Süchtigen liege dennoch um einiges höher und steige kontinuierlich. In ganz Russland beträgt die Zahl Drogenabhängiger nach offiziellen Angaben etwa 1,8 Millionen Menschen. „Hier im Verwaltungsgebiet gibt es ausreichend staatliche Beratungsstellen und Therapieeinrichtungen“, sagt Larissa Tschaschtschina. „Wenn sich noch mehr Leute zur Behandlung melden würden, würden wir uns freuen.“ Zusätzlich gibt es allein im Omsker Verwaltungsgebiet acht verschiedene religiös geprägte Betreuungseinrichtungen, die von acht verschiedenen religiösen Gruppierungen betrieben werden. Larissa Tschaschtschina sieht die Arbeit dieser Gruppen kritisch: „Um eine Rehabilitation im eigentlichen Sinne kann es dabei nicht gehen“, sagt sie. „Diese Einrichtungen haben zumeist keine Lizenz für medizinische Tätigkeiten. An erster Stelle stehen für sie vor allem Glaubensfragen.“ Drogenabhängige, Menschen mit psychischen Störungen, könnten durch Missionare leicht unter Druck gesetzt werden und auf diese Weise einfach eine Sucht gegen eine andere austauschen.
Das Ehepaar Bleile (hinten rechts) mit ihren Patienten in Sosnowka.
Christina WittichDas Ehepaar Bleile missioniert im Dienst der Freien Christlichen Jugendgemeinschaft (FCJG). Der Verein Help International, ein Ableger der FCJG, hat sie nach Sibirien entsandt. Die FCJG ist keine Sekte. „Sie ist eine charismatisch geprägte Organisation, die manchen geholfen hat“, sagt Reinhard Hempelmann, Leiter der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Sehr euphorisch, enthusiastisch missionarisch seien die Mitglieder, auch „meistens ehrlich bemüht, Menschen zu helfen.“ Trotzdem könnten deren weit reichende Versprechungen zu großen Enttäuschungen führen, wenn nicht das erhoffte Ergebnis eintrete. „Wir sind keine Mediziner oder Therapeuten im üblichen Sinne“, sagt Martin Rohsmann, der die Organisation in Deutschland leitet. „Wir helfen, ein Ziel im Leben zu finden, um die Drogensucht zu überwinden. Wenn der Glaube dabei ein Weg für denjenigen ist, leiten wir ihn an.“ In Lüdenscheid bietet der FCJG seit etwa 30 Jahren Drogenrehabilitation an. Er meldet dort eine Rückfallquote von unter 20 Prozent. Auch das Ehepaar Bleile hat seine Erfahrungen in der Therapie zehn Jahre lang in Lüdenscheid gesammelt. Die Organisation arbeitet in zehn verschiedenen Ländern. Auch in Nowosibirsk, etwa 600 Kilometer von Omsk entfernt, hat der Verein bis vor einem halben Jahr eine Suppenküche betrieben, kümmerte sich um Menschen, „die vom Staat nicht gleich aufgefangen werden konnten“. Nach sieben Jahren musste er den Dienst einstellen, „weil Mitarbeiter mit entsprechendem Potential fehlten“, sagt Rohsmann. Die Drogenrehabilitation bei Omsk ist momentan der einzige Stützpunkt des FCJG in Russland. „Unser Ziel ist, dass wir dort langfristig eigenständig existieren und uns dort über Spenden finanzieren können“, sagt der Leiter. Das Projekt lebt derzeit vor allem von dem, was Ehepaar Bleile selbst bereitstellt. Ungefähr 150.000 Euro hätten sie bisher in das Haus investiert, sagt Franz Bleile. Das Geld stammt zum größten Teil aus einer Erbschaft seiner Frau. „Ich habe von Sibirien geträumt“, sagt Aurelle Bleile. Lange bevor ihr Mann überhaupt auf die Idee kam, nach Russland zu gehen. Die 40-Jährige erinnert sich noch sehr lebhaft: „In meinem Traum lag Schnee auf der Straße und ich bin gelaufen. Auf einmal waren ganz viele junge Leute um mich herum und ich verstand kein einziges Wort. Dann sehe ich dieses Haus mit ganz vielen Kronleuchtern. Hohe Wellen haben mich bedroht und ich ging durch Gestrüpp. Als ich aufgewacht bin, wusste ich: Das war Russland“, sagt sie, „und ich war völlig fertig.“ Zwei Jahre später zog die Familie nach Omsk. Das Haus aus ihrem Traum sei das Haus, in dem sie jetzt lebe, sagt Aurelle Bleile: „Als ich das Haus gesehen habe, habe ich zu Franz gesagt: ‚Das ist es.’ Dort hingen nur Kronleuchter. Alles voller Kronleuchter. Kein Klo, kein Wasser – aber Kronleuchter.“ Die Familie baute um. Sie kämpfte mit den russischen Behörden um ein Visum, reiste aus, reiste wieder ein und baute weiter um. Irgendwann endlich war dann das fertig, was die Eheleute „unsere Berufung“ nennen: Die Kronleuchter sind weg. Im Obergeschoss wohnt die Familie. Im Erdgeschoss liegen ein Versammlungsraum mit Kamin und roter Sofa-Garnitur, eine Waschküche, ein Tischtennisraum, vier Schlafzimmer mit jeweils zwei selbst gebauten Doppelstockbetten. Auf jedem Nachttisch liegt eine Bibel. Eine Werkstatt soll noch entstehen. Ein größerer Gebetsraum wird gerade gebaut. Gleich am Eingang eine geräumige Küche, Holzbänke und Holztische für gemeinsame Mahlzeiten. Eine Frau aus dem Dorf bewirtet die Bewohner mit deftigem Borschtsch und frischen Salaten. Die Lebensmittel sind Spenden aus dem Dorf. Auch die Köchin ist ein Problemfall: der Mann Alkoholiker, sie mit dem Sohn überfordert. Hausmutter Aurelle kümmert sich um Frau und Kind. Zur Therapie nimmt das Ehepaar nur Männer auf, „sonst ginge es hier drunter und drüber“, sagt die Frau. Einige hätten den physischen Entzug teilweise schon hinter sich gebracht. Andere kämen, „weil sie
woanders keine Unterstützung bekommen“ und entziehen sich der Droge im Doppelstockbett. Typische Entzugserscheinungen – Krämpfe, Schüttelfrost, Erbrechen – seien angeblich die Ausnahme. Aurelle Bleile nennt das „ein Wunder Gottes“. Sollte das Wunder einmal ausbleiben, steht sie in Kontakt mit einer Ärztin. Um das Seelenheil der Männer kümmert sich Franz Bleile in Andachten und Einzelgesprächen. Serik, ein dicker Kasache mit Kindergesicht, der im Alter von 21 Jahren bereits auf eine fünfjährige Drogenerfahrung zurückblicken kann, hat sich taufen lassen. In seinem früheren Leben war er Moslem. „Was hat mir dieser Allah genutzt“, schimpft er heute, „geholfen hat er mir gar nicht. Jesus hilft mir jetzt“. Zu Beginn sei seine Familie einverstanden gewesen mit der Art der Therapie. Später hätte sie sich beinahe vom abtrünnigen Sohn losgesagt. Mittlerweile sei das Verhältnis wieder entspannt.
„Demut praxisnah erklärt“, nennt Franz Bleile seinen Ansatz. „Es geht darum, dass du Jesus als deinen persönlichen Erlöser kennen lernst. Aber wir zwingen hier niemanden.“Momentan wartet die Familie in Deutschland auf eine erneute Einladung der russischen Behörden, um ihre Arbeit in Sosnowka weiterführen zu können. Es ist schwerer geworden, ein Visum zu bekommen. „Wir wollen auf jeden Fall weitermachen“, sagt Franz Bleile. Immerhin: Vitali hat jetzt Arbeit, neue Freunde, ein neues Leben. Und er hat Pläne: „Ich habe eine sieben Jahre alte Tochter“, sagt er. „Die will ich jetzt auch mit Gott bekannt machen und mit ihr die Zeit nachholen, die wir bisher verpasst haben.“Geschrieben unter Mitarbeit von Galina Widrich.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87


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