Russland

„Lieber Augustin, alles ist hin“

Die Straße nach Furmanowka, das ehemalige Urbach, ist ein besserer Feldweg. Der Reisebus mit einem Dutzend Rentnern, die sich nach 70 Jahren in die eigene Vergangenheit aufgemacht haben, hält am letzten Abzweig. Lydia Mokschanowa, die früher einmal Hense hieß, steigt in einen russischen Pkw um, der die Buckelpiste erfolgreich meistert.

Als hinter einem Hügel ihr Heimatdorf auftaucht, wird Mokschanowa aufgeregt. Sie hat Urbach nicht mehr gesehen, seit sie 15 war. Seit jenem Sommer 1941, als Hitler die Sowjetunion überfiel und Lydia, die in der Stadt Russisch gelernt hatte, den deutschen Einwohnern auf dem Dorfplatz die Kriegsmeldungen aus dem Moskauer Radio übersetzte. In Urbach sprach man nur Deutsch, besser gesagt einen süddeutschen Dialekt, so wie in den meisten Dörfern der damaligen „Wolgarepublik“.


Zwischen Marx und Engels – die „Wolgarepublik“

In einem Manifest von 1763 warb Russlands deutsche Zarin Katharina die Große um die Besiedlung bis dahin unbewohnter Gebiete durch Ausländer und versprach im Gegenzug umfangreiche Vergünstigungen. Mehrere Zehntausend Deutsche – vor allem aus süddeutschen Fürstentümern – folgten dem Aufruf und ließen sich an der Wolga nieder. Bis zum Beginn des 19. Jahrhundert war ihre Zahl auf 600.000 gewachsen. Nach der Machtübernahme der Bolschewisten genossen sie ab 1918 gewisse Selbstverwaltungsrechte, 1924 wurde die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“ eingerichtet, auf einer Fläche fast so groß wie Belgien.

Die beiden größten Städte hießen Marx und Engels. 60 Prozent der Bevölkerung waren Deutsche. Die „Wolgarepublik“ hatte jedoch nur bis 1941 Bestand, als Moskau die Russlanddeutschen der Diversion und Spionage zu Gunsten des deutschen Kriegsgegners beschuldigte. Drei Viertel der Einwohner wurden nach Sibirien deportiert, ein Viertel nach Zentralasien. 1964 rehabilitiert, machten sich die Russlanddeutschen im Zuge von Gorbatschows Perestroika für eine Wiederherstellung der „Wolgarepublik“ stark, was jedoch an zahlreichen Widerständen – unter anderem der dort ansässigen Bevölkerung – scheiterte. Stattdessen wurden in Sibirien zwei so genannte „Nationalkreise“ gegründet, die für viele Russlanddeutsche aber nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zur massenhaften Auswanderung nach Deutschland waren.


Der Wagen biegt auf die Hauptstraße von Furmanowka ein. „Sehen Sie, sogar eine Klimaanlage hat hier der eine oder andere“, sagt die Behördenvertreterin, die mit im Auto sitzt, und zeigt nach draußen. Die Klimaanlage ist eine der wenigen Errungenschaften, die der Ort vorzuweisen hat. Statt wie einst 2.500 Einwohner zählt Furmanowka heute nur noch 300 Seelen. Die erhalten gebliebene deutsche Bebauung beschränkt sich auf einige wenige Holzhäuser. Lydia Mokschanowa, deren Vorfahren 1768 aus Dessau an die Wolga übersiedelten, sucht mit den Augen vergeblich nach Orientierung. Schließlich hält sie es nicht mehr aus und seufzt: „Oi oi oi, was ist nur aus meinen Dorf geworden? Ich erkenne es nicht wieder.“

Ernüchterung und Humor

Aber Mokschanowa ist eine rüstige, resolute Person, die sich nicht so leicht unterkriegen lässt. Krumm das Kreuz, aber aufrecht der Gang. Nachdem Stalin die Wolgadeutschen 1941 nach Ausbruch des Krieges gegen Deutschland kollektiv in entlegene Gegenden der Sowjetunion deportieren ließ, hat sie ihr ganzes Leben als Lehrerin für Mathematik und Physik gearbeitet, noch mit 73 Jahren. Was sie in Furmanowka und anderen ehemals deutschen Dörfern an der Wolga erfährt, wird fein säuberlich in einem Schreibheft protokolliert. Doch viel ist es nicht, was die heutigen Dorfbewohner zur Erhellung der jüngeren Geschichte beitragen können. Mokschanowa freut sich, als ihr der Russlanddeutsche Alexander Wagner vorgestellt wird, sie begrüßt ihn hoffnungsvoll mit „Guten Tag“, doch der Mann entgegnet, er könne kein Deutsch. Und die Kirche? Was ist mit der Kirche passiert? Auch davon weiß Wagner noch weniger als Mokschanowa selbst, zu deren Zeit die Kirche von der Sowjetmacht geschlossen und als Schule und Klub zweckentfremdet worden war. Inzwischen ist das Gebäude ganz verschwunden.

Die Erlebnisse der Heimkehrer an diesem Tag ähneln sich. Ob nun in Boregardt (Priwolschskoje), Schwed (Leninskoje) oder Niedermonjou (Bobrowka): Ihre ehemaligen Dörfer sind in einem beklagenswerten Zustand. Nicht unbedingt elender als anderswo in Russland, doch vor der Erinnerung der Wolgadeutschen – oder dem, was ihnen Eltern und Großeltern erzählt haben – können sie nicht bestehen. „Ach, du lieber Augustin, alles ist hin“, summt die 70-jährige Lilia Ossetrowa, als sie nach einem Ortstermin ernüchtert wieder im Bus sitzt – und lacht. Ossetrowa war neun Monate alt, als ihre Familie umgesiedelt wurde. „Neun Monate – und schon ein Feind.“

Die Bustour haben russlanddeutsche Verbände mit Unterstützung aus Berlin und Moskau zum 70. Jahrestag der Deportation in Saratow an der Wolga organisiert. 200 Wolgadeutsche aus ganz Russland haben erstmals die Möglichkeit, auf verschiedenen Routen ihre ehemaligen Dörfer und Städte wiederzusehen. Sie finden manchmal alte Fundamente, alte Friedhöfe, oft aber auch gar nichts Deutsches mehr. Sie nehmen Muttererde mit nach Hause, um sie auf den Gräbern verstorbener Familienmitglieder zu verteilen.


Eine Krakenschwester sitzt mit im Bus

Die Frauen und Männer im Bus sind im Schnitt Mitte 70 und heute überwiegend in der Gegend von Tomsk zu Hause, einer Universitätsstadt in Sibirien, mehrere Tausend Bahnkilometer von der Wolga entfernt. Freunde und Bekannte haben ihnen von der weiten und nervenaufreibenden Reise abgeraten. Wie zur Bestätigung musste einer wieder umkehren, kaum, dass er losgefahren war. Das Herz! Vorsichtshalber sitzt nun eine Krankenschwester mit im Bus. Doch die Passagiere scherzen, kokettieren, lenken sich ab, so gut es geht – bis ab und zu jemand die Fassung verliert. „Vera, Verotschka, stell dir vor, ich fahre in das Dorf, wo ich geboren wurde“, spricht Maria Funk mit zitternder Stimme ins Telefon, als ihre Enkelin anruft. Verstohlen wischt sich Marussja, wie sie genannt wird, die Tränen aus dem Gesicht und hat sich schnell wieder in der Gewalt. „Ich mach mal die Schtorki uff, dass mer sehn, wo mer fahrn“, zieht sie die Vorhänge beiseite.

Die Eltern von Lilia Ossetrowa sind bereits in Deutschland gestorben, als Spätaussiedler. Sie selbst blieb in Sibirien – und verdient sich heute als Pförtnerin etwas dazu, damit die Rente von gut 300 Euro reicht. Immerhin: „Repressierten“ erlässt der Staat die Hälfte der Wohnungskosten. Beim Tee auf dem Rückweg von der Besichtigungsreise stellt die ehemalige Apothekerin mit ihrem Mutterwitz die anderen Deutschen zur Rede. „Und? Wer zieht zurück an die Wolga? Freiwillige vor!“ Sie blinzelt verschmitzt in die Runde. „Keiner? Das habe ich mir gedacht.“


Die Wolgadeutschen werden freundlich empfangen

Im früheren Siedlungsgebiet der Deutschen leben heute nur noch vereinzelt Deutsche. „In unserem Alter will einfach keiner noch einmal bei Null anfangen“, sagt der 74-jährige Eduard Weber aus Sibirien. Aber warum sind sie nicht früher gekommen, vor 20 Jahren schon? „Da war die Stimmung hier sehr feindselig uns gegenüber.“ Inzwischen hat sich der Ton gewandelt. Die Wolgadeutschen wurden überall freundlich empfangen, von Vertretern der lokalen Behörden und einer Verkehrsstreife begleitet.

Lydia Mokschanowa findet zu guter Letzt in Furmanowka doch noch ein Stück Urbach. Über das Flüsschen Groß-Karaman spannt sich nach wie vor eine schmale Hängebrücke für Fußgänger. „Hier bin ich jeden Tag rüber und habe meinem Onkel im Nachbarort Essen gebracht“, erinnert sich die 85-Jährige. Heute ist das der Schulweg für die Kinder von Furmanowka. Ihre eigene Dorfschule wurde aus Mangel an Schülern schon vor längerer Zeit geschlossen.


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