Judenverfolgung statt Flower Power
Das Jahr 1968, eine Zeit weltweiter Protestbewegungen, ritzte auch der Volksrepublik an der Weichsel dauerhaft seine historischen Spuren ein. "Unabhängigkeit ohne Zensur" lautete ein zentraler Slogan der studentischen Rebellen in Polen Anfang 1968. Denn nach einer Zeit relativer Stabilität und vordergründiger Liberalisierung zwischen 1956 und1958 war der kommunistische Staatsapparat zunehmend repressiver geworden.
Seit 1967 verbreitete sich antijüdische Hetzpropaganda im Land - getarnt als "Antizionismus". Hintergrund war der israelisch-arabische Sechstagekrieg von 1967, der die Sowjetunion veranlasste, ihre Beziehungen zu Israel abzubrechen. Das Satellitenland Polen folgte dem Schritt des großen Bruders und die parteiinterne Fraktion der "Partisanen" um Innenminister Mieczyslaw Moczar lancierte antijüdische Parolen. So war von der "zionistischen V. Kolonne" die Rede, die in Polen ihre Fäden ziehen würde, oder vom zionistischen und westlichen Imperialismus, der nun seine Krallen zeige. Polnische Juden vor allem in hohen Positionen gerieten zunehmend unter Druck. Hochrangige polnisch-jüdische Militärs wurden entlassen, durften das Land jedoch nicht verlassen, weil man fürchtete, sie könnten Staatsgeheimnisse verraten.
Die Studentenproteste von 1968 hatten jedoch nur indirekt mit dieser Kampagne zu tun. Der unmittelbare Anlass war - in einer Atmosphäre allgemeiner Repression - die Absetzung des Theaterstücks "Dziady" ("Ahnenfeier") des polnischen Nationaldichters und Poeten Adam Mickiewicz. Die Inszenierung war entgegen ursprünglichen Plänen von Zensoren als antisowjetisch eingestuft worden. Regisseur Kazimierz Dejmka sollte das in Warschau aufgeführte Opus nach nur elf Vorstellungen einstellen. Am 30. Januar 1968 fiel der letzte Vorhang. Vor allem Studenten protestierten danach gegen das Aufführungsverbot.
Die Miliz trieb die Demonstranten auseinander und verwies zwei von ihnen, Adam Michnik und Henryk Szlajfer, von der Warschauer Universität. Dies heizte die Stimmung weiter an, die Studenten organisierten sich in verschiedenen Städten und gingen am 8. März auf die Straße, um für ihre von der Universität verwiesenen Kommilitonen und die Kunst- und Meinungsfreiheit zu demonstrieren. Sie wurden von der Miliz gewaltsam auseinandergetrieben. Bereits am Morgen des 8. März wurden die führenden Köpfe der Revolte inhaftiert, unter ihnen die in den Folgejahren bis 1989 wichtigsten Dissidenten, Jacek Kuron und Adam Michnik, der jetzige Chefredakteur der liberalen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza".
Die kommunistischen Machthaber setzten wenig später Parolen in Umlauf wie "Studenten zum Lernen, Schriftsteller an die Federn, Zionisten nach Zion". Auf Betriebversammlungen stellten Parteikader die Studentenführer "als Bananenjugend" an den Pranger, in Anspielung auf ihre angeblich elitäre Herkunft und die Distanz zum arbeitenden Volk. Der Erste Sekretär der Arbeiterpartei PZPR, Wladyslaw Gomulka, bezeichnete die Protestler als "Feinde der Volksrepublik Polen" und unterstrich deren jüdische Wurzeln. Er sagte zugleich, der Kampf mit dem Zionismus habe nichts mit Antisemitismus zu tun.Die Studenten organisierten daraufhin weitere Proteste an den Warschauer Hochschulen. Sie forderten ein Ende der Diskriminierung und weitgehende Freiheitsrechte. Der Funke des Aufruhrs sprang auf andere große Städte des Landes über. Einige Intellektuelle, Hochschullehrer und der polnische Schriftstellerverband erklärten sich mit den Studenten solidarisch. Dem wachsenden Protest traten die Machthaber zunehmend entschiedener entgegen. Sie entließen namhafte jüdische Professoren, etwa den Soziologen Zygmunt Bauman, stellten den Hochschulbetrieb zeitweise ein und schlossen sechs Fachbereiche an der Warschauer Universität, darunter die Philosophische Fakultät. Männliche Studenten wurden zwangsweise zum Militärdienst eingezogen, Tausende landeten in Gefängnissen. Im Mai hatte der übermächtige Staatsapparat die studentischen Proteste, die vollkommen unblutig verliefen, erstickt.
Dass viele der jungen Aufrührer jüdisch klingende Namen trugen, war ein willkommener Vorwand, die im Jahr zuvor begonnene Kampagne gegen die polnischen Juden massiv auszuweiten und zu einem traurigen Abschluss zu bringen. Etwa 13.000 polnische Juden verließen zwischen 1968 und 1971 das Land, vor allem in Richtung USA, Israel, Schweden oder Dänemark. Zuvor waren viele von ihnen ihrer hohen Ämter etwa in der Partei und im Bildungswesen enthoben worden. Nach Angaben der Historikerin Alina Cala vom Jüdischen Geschichtsinstitut in Warschau sind diese Personen zum Teil unter erheblichen Druck gesetzt worden, das Land zu verlassen. Nach dem Exodus blieben nach Einschätzung von Cala höchstens 10.000 Juden in Polen. "Doch nur einige hundert lebten tatsächlich ein jüdisches Leben", berichtet die Historikerin. Die meisten seien ohnehin assimiliert gewesen oder verschwiegen ihre jüdischen Wurzeln. Zum 40. Jahrestag der Ereignisse vom März 1968 sind nun erneut Stimmen laut geworden, diese zwangsemigrierten polnischen Juden zumindest dadurch zu rehabilitieren, dass man ihnen ihre polnische Staatsangehörigkeit bestätigt. Denn bei der erpressten Auswanderung hatten sie unterschreiben müssen, dass sie mit der Ausreise zugleich ihre polnische Staatsangehörigkeit verlieren. Polens Präsident Lech Kaczynski trat jetzt ebenso für eine Rehabilitierung ein wie führende polnische Intellektuelle in einem offenen Brief.
Zudem hatte bereits das Hauptverwaltungsgericht in Einzelfällen entschieden, dass der Entzug der Staatsangehörigkeit während der Zeit der Volksrepublik unrecht war und daher ungültig sei. Die Frage der Rehabilitation war in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand von Debatten gewesen, doch geschehen war bisher nichts.Der polnische Innenminister Grzegorz Schetyna hat am Mittwoch offiziell - und etwas überraschend -angekündigt, entsprechende Schritte einzuleiten, damit die polnische Staatsangehörigkeit der Betroffenen von den zuständigen Wojewoden bestätigt wird. Hintergrund der bisherigen Blockade durch das Innenministerium waren vor allem mögliche Wiedergutmachungsforderungen, denn viele der Emigranten mussten auch Wertgegenstände oder Immobilien zurücklassen oder sie weit unter Wert verkaufen. Der Vorsitzende der jüdischen Konfessionsgemeinden in Polen, Piotr Kadlcik, zeigte sich in einer ersten Reaktion zufrieden mit der angekündigten Regelung des Innenministeriums. Die Historikerin Cala hingegen würde gern noch einen weiteren Schritt sehen: "Von der Logik christlicher Tradition her sollte das Parlament in einem Rechtsakt die damaligen Zwangshandlungen ein für alle Mal als Unrecht erklären." Die Ereignisse vom März 1968 hatten auch jenseits der polnisch-jüdischen Frage einen dauerhaften Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Polen. In ihrer unmittelbaren Nachwirkung waren sie demoralisierend: Ein aggressiver Antisemitismus keimte auf, das Land vertrieb viele kluge Köpfe, sein Ansehen im Ausland nahm massiven Schaden, dem repressiven Regime ließ sich keine Liberalisierung abtrotzen.
Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski schrieb im Jahr 1998: "Viele Menschen waren bereit, sich [Innenminister] Moczar und seiner wilden Hetze anzuschließen, nicht nur gegen Polen jüdischer Herkunft, sondern gegen die ganze aufgeklärte Schicht unserer Gesellschaft. Das Jahr 1968 wurde deshalb zu einem Jahr der Schande, weil nur wenige damals die Würde des Landes retteten, viele hingegen diese Würde mit Füßen traten."Gleichwohl haben in dieser Zeit des Protests viele Aktivisten ihren politischen Kampf begonnen, die auch später und zum Teil bis heute eine führende Rolle in der politischen Entwicklung Polens spielten. Obwohl die Studenten mit ihrem Ansinnen zunächst kläglich scheiterten, pflanzten die Proteste doch den Keim einer Oppositionsbewegung, die insbesondere durch die Nachkriegsgeneration geprägt werden sollte.
Die Proteste im März 1968 scheiterten auch, weil die Studenten in ihren Aktionen weitgehend allein geblieben waren, ohne aus der Arbeiterschicht unterstützt zu werden. In den Folgejahren näherten sich Intellektuellen und Arbeitern einander an - bis ab 1980 die Solidarnosc-Bewegung entstand: mit dem Elektriker Lech Walesa an der Spitze und Intellektuellen als Berater, unter ihnen die Aufrührer von einst, Jacek Kuron und Adam Michnik.Letzterer stand am Donnerstag im Zentrum eines Eklats: Zu einer feierlichen Stunde im Präsidentenpalast, bei der Teilnehmer der Proteste von 1968 ausgezeichnet wurden, lud Staatsoberhaupt Lech Kaczynski den früheren Oppositionellen nicht ein, obwohl dieser eine entscheidende Rolle bei den Märzereignissen gespielt hatte. Kaczynskis Amtsvorgänger Aleksander Kwasniewski sowie Kommentatoren von Konkurrenzblättern von Michniks „Gazeta Wyborcza“ kritisierten dies scharf. Michnik war ein starker Kritiker der Vorgängerregierung von Jaroslaw Kaczynski.