Die Ruhe vor dem Sturm
Nach der reibungslosen Amtsübergabe stehen dem russischen Präsidenten schwierige Reformen bevor (n-ost) - Wie zu erwarten, wurde Putins Wunschkandidat Dmitri Medwedew zum neuen Präsidenten Russlands gewählt. Er erhielt rund 70 Prozent der abgegebenen Stimmen. An zweiter Stelle folgt Kommunisten-Chef Gennadi Sjuganow mit ca. 18 Prozent, dahinter der radikale Nationalist Wladimir Schirinowski mit 9 Prozent und Andrej Bogdanow von der Demokratischen Partei mit etwas mehr als einem Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei 70 Prozent. Putin wird also abtreten und sich um das Amt des Ministerpräsidenten bewerben, was weder Medwedew noch die Duma ihm abschlagen werden. Sjuganow wird wegen Wahlbetrugs vor Gericht klagen. Schirinowski ist einfach zufrieden, dabei gewesen zu sein und Bodganow fährt heim ins Exil, um sich dort auszuruhen. Die radikal-liberale Opposition kündigte unterdessen einen Protestmarsch an. Ist also alles gesagt, die Straße geebnet? Putin packt ein, Medwedew räumt auf? Oder verhält es sich vielleicht doch ganz anders?Es gab da einige winzige Meldungen, die aufhorchen ließen. So war beispielsweise zu lesen, Wladimir Putin habe sich im Namen Russlands auf dem letzten GUS-Gipfel wenige Tage vor der Wahl entschuldigen müssen - für Fremdenhass, Intoleranz und tödliche Überfälle auf Ausländer in seinem Land. Wer genau hinsah, konnte auch erfahren, dass schon vor dem Wahltag eine Demonstration der Putin-Jugend in Moskau von der Polizei aufgelöst wurde und die Fördergelder für die Organisation landesweit gekürzt wurden. Am Wahltag erstaunte die Nachricht, die Demonstration der Unterstützer des Oppositionellen Garri Kasparow sei für St. Petersburg erlaubt, für Moskau hingegen verboten worden. Noch mehr überraschte schließlich die Meldung, dass am Sonntag keineswegs nur der Präsident neu gewählt wurde, sondern zur gleichen Zeit regionale Wahlen zu gesetzgebenden Versammlungen stattfanden und zusätzlich 106 Volksentscheide in 18 "Subjekten" der Föderation durchgeführt wurden. Das Bemerkenswerte an dieser Nachricht ist dabei das, was nicht mitgeteilt wurde - es waren nämlich keinerlei Einzelheiten über den Inhalt der Volksentscheide zu erfahren.
Man mag Putins Entschuldigung auf dem GUS-Gipfel, den Rückpfiff der Putin-Jugend und die Proteste der Radikal-Liberalen lediglich für Zeichen eines Wandels halten, mit dem sich der neue Staatschef auseinander setzen muss. Zusammen mit der Tatsache jedoch, dass die mehr als hundert Volksentscheide in den Regionen überhaupt nicht ins öffentliche Bewusstsein drangen, zeigt sich, womit der zukünftige Präsident Medwedew und sein Ministerpräsident in spe, Wladimir Putin, in Zukunft ihre Schwierigkeiten haben werden: damit, der Bevölkerung an der Basis die Politik der Staatspitze zu vermitteln. In diese Richtung weist auch Medwedews Ankündigung, sich um eine freie Presse als Transmissionsriemen vom Volk zur Staatsspitze kümmern zu wollen. In der Sowjetunion hatte diese Rolle 70 Jahre lang die Kommunistische Partei inne.Um zu verstehen, was auf die neu gruppierte russische Führung zukommt, sollte man sich die Ziele vergegenwärtigen, die Medwedew im Wahlkampf genannt hat. Die Politik des Staates solle auf dem Prinzip "Freiheit ist besser als Unfreiheit" gründen, sagte er - und meinte damit alle Formen der Freiheit von der persönlichen über die wirtschaftliche bis hin zur Freiheit der Selbstverwirklichung. Wenn dies nicht nur politische Floskeln bleiben sollen, muss er diese Worte nun in der Praxis konkretisieren. Diese Praxis findet in Russland aber vor allem in den Weiten der russischen Regionen statt - und zwar nicht nur in den achtzehn Föderationssubjekten, in denen am Sonntag Volksentscheide abgehalten wurden, sondern in allen vierundachtzig.Nur regional werden die großen "nationalen Projekte" zu verwirklichen sein, die noch in der Amtszeit Putins beschlossen, aber zugunsten einer Konzentration auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau bis nach der Wahl auf Eis gelegt wurden. Dazu gehören die Entwicklung des Gesundheitswesens, das allen Menschen eine medizinische Versorgung garantieren soll, die Durchführung eines Wohnungsbauprogramms, um die Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum zu versorgen, die Entwicklung eines Bildungswesens, das die zusammengebrochene Schul- und weiterführende Bildung wieder herstellt und die Umkehrung der demographischen Abwärtsbewegung in der russischen Bevölkerung.
Der gegenwärtige Zustand in diesen vier Bereichen ist durchweg mangelhaft, teilweise sogar katastrophal. Im Gesundheitswesen hat eine Zwei-Klassen-Medizin die früher kostenlose medizinische Versorgung verdrängt. Die Preise auf dem derzeit chaotischen Wohnungsmarkt -einer Mischung aus privatisiertem Mietwucher, Immobilienspekulation und Häusern in Staatsbesitz - sind für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich. Für die Bildung gilt wie für das Gesundheitswesen: Die Zwei-Klassen-Gesellschaft ist Realität. Gegen den weiteren Abfall der demographischen Kurve schließlich hat die Duma unter Putin ein Muttergeld beschlossen; viel wurde dadurch allerdings bisher nicht erreicht.Auch die von Medwedew angekündigten "Vier I's" in dessen Wirtschaftsprogramm - Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen - sind bisher nur gut aufpolierte Worte. Ohne Mitwirkung der regionalen Führungsetagen und der Bevölkerung in den Regionen sind auch sie nicht zu verwirklichen. Zudem könnte sich zeigen, dass die Verwirklichung der "Vier I's" der "nationalen Programme" in der Sozialpolitik diametral entgegenläuft - mit ein Grund dafür, dass sie vor der Wahl auf Eis gelegt wurden. Ein Blick auf das Programm des einzigen wirklichen Kontrahenten Medwedews, Gennadi Sjuganow - der trotz der Wahlniederlage über starken Rückhalt in der Bevölkerung vor allem in den Regionen verfügt -, macht deutlich, was den neuen Präsidenten Medwedew in Zukunft erwartet. Sjuganow fordert vor allem die Rücknahme aller Gesetze, welche die materielle Lage der Bevölkerung verschlechtert haben. Dazu gehören das Gesetz zur Monetarisierung der "Sozialen Vergünstigungen", das schon bei seiner Einführung 2005 auf massenhaften Protest in der Bevölkerung stieß und von den Behörden teilweise ausgesetzt werden musste, außerdem das Wohn- und das Wassergesetz, Gesetze zur Privatisierung des Bodens, des Waldes sowie das Arbeitsgesetz, das Streiks faktisch illegalisierte. Es handelt sich in allen Fällen um Forderungen, die den "nationalen Projekten" Putins zum Teil diametral entgegenlaufen. Die Machtübergabe vom zweiten auf den dritten Präsidenten des neuen Russland mag vorerst erfolgt sein. Aber weit entfernt davon, Ruhe zu schaffen, führen die Programme von Medwedew und Sjuganow erkennbar direkt in den Konflikt einer zweiten Privatisierungsphase. Nachdem die erste Phase, die Privatisierung der Produktionsmittel, inzwischen weitgehend abgeschlossen ist und der maßlosen Bereicherung von Oligarchen Einhalt geboten wurde, geht es jetzt um die Privatisierung des kommunalen und sozialen Lebens. Dies wird zweifellos zu schweren und zudem sehr uneinheitlichen Auseinandersetzungen in allen Teilen des Landes führen.Ob Putin oder Medwedew auf dem zukünftigen Weg den Ton angeben, ob und wie sie sich ergänzen oder widersprechen, spielt strategisch letztlich keine Rolle. Die Frage, um die es in Russland in der nächsten Zeit geht, lautet nicht: Putin oder Medwedew, Medwedew ohne Putin oder Putin wieder ohne Medwedew? Sie lautet viel grundsätzlicher: Sozial oder unsozial? Durchsetzung "europäischer Normen" oder Bewahrung eigener russischer Strukturen? Letzteres würde bedeuten, einen Kompromiss zwischen privatwirtschaftlich organisiertem Markt und der Tradition des Gemeineigentums zu finden. Anders gesagt: Es stellt sich die Frage, auf wessen Kosten der nächste Schritt der russischen Transformation bewältigt werden soll und wie er aussehen kann, wenn er nicht in einer einfachen Übernahme Russlands durch das internationale Kapital endet, was unwahrscheinlich ist. Die Antwort wird nicht lange auf sich warten lassen. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87