"IM KREML SITZEN NUR VERRÄTER"
Junge Russen sind unzufrieden mit der Politik im Kreml - aber eine andere Wahl haben sie nichtDie Präsidentenwahl in Russland ist so gut wie entschieden. Es geht nur noch darum, den vom Kreml bestimmten Kandidaten Dimitri Medwedew ins Amt zu wählen. Ein Wahlkampf nach europäischem oder amerikanischem Muster findet nicht statt. Was denken junge Russen über diese Situation? Werden sie zur Wahl gehen und wie zufrieden sind sie mit der Politik ihres Landes? Junge Russen aus verschiedenen Regionen des Landes sagen ihre Meinung.Galina Turischewa, 23 Jahre, aus Moskau:Ihre russische Heimat liebt Galina Turischewa. Die Doktorandin an der Moskauer Lomonossow-Universität wird auf jeden Fall zur Präsidentenwahl gehen. Doch zufrieden mit der Politik in ihrem Land ist die 23-Jährige nicht. "Im Kreml sitzen nur Verräter", sagt sie. Unter den vier Kandidaten sehe sie keinen, der würdig wäre, ein russischer Präsident zu sein. Wen sie wählen wird, verrät sie nicht. Galina bedauert, dass es bei den Wahlen nicht mehr die Möglichkeit gibt, auf dem Wahlzettel "gegen alle" anzukreuzen. So konnte der Wähler früher zumindest seinen Protest gegen die Politiker zum Ausdruck bringen, erzählt sie. Die Präsidentschaftswahl sei zwar frei, aber nicht fair, denkt die studierte Politologin.
Galina Turischewa
privatDie Kritik, die aus dem Westen kommt, kennt Galina, auch weil sie schon in Deutschland studiert hat. Einverstanden ist sie mit dieser Kritik nur, wenn sie begründet ist. Allzu oft würden in den westlichen Medien aber alte Feindbilder reaktiviert. Die Presse im Westen schreibe nur über die negativen Ereignisse in Russland. "Deshalb entsteht in Europa der Eindruck, in Russland gebe es nur Armut und Kriminalität", meint die Moskauerin. Auch Schlagworte wie "Kalter Krieg" seien falsch, um die Beziehung zwischen Europa und Russland zu beschreiben. "Das Wichtigste ist, dass die europäischen Länder Russland nicht als Feind, sondern als Freund und Partner akzeptieren", denkt Galina. In einer globalisierten Welt sollten die Staaten friedlich kooperieren.Wladimir Unagaew, 21 Jahre, aus dem ostsibirischen Ulan-Ude in der Nähe des Baikalsees:Für Wladimir Unagaew aus Ulan-Ude in Ostsibirien ist die Wahl am 2. März eine Premiere. Zum ersten Mal darf der 21-Jährige zu einer Präsidentenwahl gehen. "Da möchte ich unbedingt mitwirken", sagt er stolz. Mit der Politik des amtierenden Präsidenten Wladimir Putin ist der Student der Germanistik zufrieden. Auch Spitzenkandidat Dimitri Medwedew werde diesen erfolgreichen Kurs beibehalten, ist er sich sicher. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten, meint Wladimir. So sei die russische Rechtskultur unterentwickelt und die Rechte der Verbraucher seien nicht ausreichend geschützt. Zudem müsse das Gesundheitswesen reformiert werden.
Wladimir Unagaew
privatDie Kritik aus dem Westen findet Wladimir, der schon ein Semester in Essen studiert hat, teilweise gerechtfertigt. "Eine Demokratie gibt es in Russland kaum", kritisiert der junge Mann. In Russland sind Menschenrechte nicht viel wert, glaubt er. Dringend gelöst werden müsse das Problem des Bevölkerungsrückgangs. Letztlich denkt Wladimir aber, dass der neue Präsident die Schwierigkeiten meistern wird. "Mit dem alten Präsidenten Wladimir Putin hat unser Staat viel gewonnen", erklärt der Student. Auch unter dem voraussichtlich neuen Präsidenten Dimitri Medwedew werde Russland noch stärker von den anderen Ländern respektiert werden und eine wichtige Rolle in der Weltpolitik spielen. Nuria Fatichowa, 25 Jahre, aus Tscheljabinsk, Südural: Nuria Fatichowa ist sauer auf die russischen Politiker. Zur Präsidentenwahl wird die 25-Jährige aus der Stadt Tscheljabinsk im Südural nicht gehen. Mit der Politik hat sie sich vollkommen überworfen. "Das Wort zufrieden fehlt in meinem Wortschatz zurzeit", sagt sie. Für ihre Unzufriedenheit hat die junge Frau Gründe. "Gestern habe ich einen 85-jährigen Veteranen gesprochen. Er sah noch sehr fit aus. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, wie der rüstige Rentner mit seiner kleinen Pension weiter überleben soll", berichtet sie. Viele alte Leute würden nicht reisen können, weil die Regierung im Kreml die Vergünstigungen für Zugfahrkarten gestrichen hat. Auch die Künstler in der Provinz darben. "Heute habe ich im Theater erfahren, dass ein Schauspieler nur 1500 Rubel (40 Euro) pro Monat verdient", empört sich Nuria.
Nuria Fatichowa
privat
Mit der Kritik der Journalisten und Politiker aus dem Westen ist die russische Staatsbürgerin mit tatarischen Wurzeln vertraut. Sie hat ein Jahr in Tübingen Philosophie studiert. Für Nuria steht fest, dass die Herren im Kreml das Problem sind. "Die Regierung soll endlich verstehen, dass das russische Volk nicht dumm ist", sagt sie. Obwohl es während Putins Amtszeit innenpolitisch wirtschaftliche Erfolge gab und außenpolitisch viele Fehlschläge, sieht Nuria dies genau umgekehrt: Putin habe sich nur auf die Außenpolitik konzentriert und nichts für die Innenpolitik getan. "Das ist ein Verbrechen", meint die Doktorandin. Im Fernsehen würden nur Märchen vom russischen Paradies erzählt werden. Die Realität sehe aber anders aus, meint sie.Ilja Jakowlew, 22 Jahre, aus der westsibirischen Stadt OmskFür Ilja Jakowlew ist die Präsidentenwahl eine Farce. Zur Wahl gehen werde er nicht. Der 22-Jährige studiert zurzeit am Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO). Dort wird die politische Elite des Landes ausgebildet. Doch viel Lust im Außenministerium zu arbeiten, hat Ilja nicht mehr. Von der Politik ist er enttäuscht. Zwar werde schon zum fünften Mal das Staatsoberhaupt vom Volke gewählt, aber die Zahl der Präsidentschaftskandidaten habe sich jedes Mal verringert. Diesmal seien es vier, doch Medwedew sei so gut wie gewählt. "Es ist ein Wahl ohne Wahl", sagt er. Zudem habe die Regierung die Mindestwahlbeteiligung von früher 25 Prozent abgeschafft. "Darüber, ob es in Russland Demokratie gibt oder nicht, lohnt es nicht zu streiten", sagt der desillusionierte junge Mann.
Ilja Jakowlew
privatKritik aus dem Westen hält Ilja jedoch für nicht gerechtfertigt. "In Russland ist bestimmt nicht alles in Ordnung, aber im Westen ist es nicht besser", meint der Politikstudent. Außenpolitisch hat Ilja trotz seiner Politikverdrossenheit große Pläne. "In zehn Jahren wird Russland die Welt regieren", glaubt der junge Moskauer. Vorausgesetzt, die anderen Staaten würden diese Vormachtstellung nicht wieder durch Intrigen vereiteln, wie 1878 auf dem Berliner Kongress.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87