Weltmacht im Wartestand?
Eine Bestandaufnahme jenseits der aktuellen Diskussion um Wladimir PutinZwanzig Jahre nach Gorbatschow fragt sich der Westen wieder, ob die Welt Angst vor Russland haben müsse. Denn das Land ist in der Lage, autark und von allen Bündnispartnern unabhängig zu existieren. Diese Möglichkeit zur Autarkie liegt zum einen in den natürlichen Ressourcen Russlands begründet, vor allem in Bodenschätzen wie Gas und Öl. Zum anderen spielt die Fähigkeit der russischen Bevölkerung eine Rolle, sich selbst zu versorgen.Beides zusammen gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder, in feindlichen Kategorien gedacht, von Sanktionen zu existieren - oder zumindest wesentlich länger zu überleben als denkbare Kontrahenten. Dreimal versetzte dies Russland im Lauf der neueren Geschichte bereits in die Lage, europäischen Eroberungsversuchen zu trotzen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939. Heute ist es ähnlich: Trotz wirtschaftlicher und politischer Krise schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt nicht nur zu überleben, sondern auch noch gestärkt aus seiner Agonie hervorzugehen. Wladimir Putins Wirken spiegelt diese Tatsachen: Nach innen ist es die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht unter den Stichworten bürokratische Zentralisierung, Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse, Disziplinierung der Oligarchen. Hinzu kommt - wenn auch auf den hohen Ölpreis gestützt - eine soziale Befriedungspolitik gegenüber der werktätigen Bevölkerung. Nach außen ist es die Kritik am hegemonialen Anspruch der USA. Stichworte dazu: neue Militärdoktrin seit 2002, Putins Auftritt auf der Münchner NATO-Tagung 2006 und ein konsequent opportunistisches Pendeln Russlands zwischen der EU im Westen und dem Shanghaier Bündnis im Osten. Mit dieser Politik kehrt Russland auf die Weltbühne zurück, während sich die ehemalige Neue Welt in Gestalt der USA bei dem Versuch, ihren Anspruch auf Weltherrschaft zu behaupten, in Kriege verstrickt und am Verfall ihrer moralischen Autorität krankt. Diese Entwicklung ist Grund genug, genauer hinzusehen, worin die Möglichkeit Russlands zur Autarkie begründet liegt: Sie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum - Weite, Größe, Vielfalt - und ebenso extremen Härten: elf Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Unwegsamkeit des Geländes, Vielvölkergemisch. Das sind Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden konnten. Sie haben eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen, in der die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet. Im Ergebnis hat man es im alten Russland mit einer Organisation des Lebens zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels als "asiatische Produktionsweise" beziehungsweise als "agrarische Despotie" charakterisierten. Autarkie und Autokratie sind darin untrennbar miteinander verbunden. Die Moskauer Zaren waren Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand eine feste Struktur zwischen Zar und Dorf, Schatzbildung in Moskau und autonomer Versorgung auf dem Lande. Sie hat sich tief in die geo-soziologische Struktur des Landes und in die Mentalität seiner Bewohner eingegraben. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität - kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: Es entstand keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Krisen gingen über das Land hinweg, ohne diese Grundbeziehung von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen. Selbst wenn versucht wurde, die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Ministerpräsident Stolypin scheiterte damals am bäuerlichen Widerstand. Auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten die gemeinschaftliche Selbstversorgung zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus. Unter Stalin steigerte sich der agrarische so zum industriellen Despotismus.Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels - Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Dies geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde. Im Kern wurden die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder hergestellt: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele - bei gleichzeitiger technischer Modernisierung der Gesellschaft.
Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies: Es gelten Regeln, die sich in drei Phasen gliedern: Zunächst endet eine lang andauernde Stabilität in Stagnation. Danach tritt Chaos ein, eine "wirre Zeit", auf Russisch "Smuta", die herrschende bürokratische Schicht zerfällt. Drittens schließlich wird diese Schicht auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau wieder hergestellt. Die Grundstruktur zwischen Zentrum und Peripherie bleibt dabei erhalten. Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die Abläufe im heutigen Russland besser verständlich: Unter der Decke der gemeinwirtschaftlichen Ordnung der Sowjetunion waren im Laufe der 70er Jahre seit 1917 qualifizierte Arbeitskräfte herangewachsen, die nach Verwirklichung drängten. Gorbatschows Perestroika ("Neues Denken" und "Glasnost") zielte auf eine gelenkte Befreiung dieser Potentiale privaten Interesses im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Ordnung, ohne diese aufheben zu wollen. Es ging um eine Effektivierung der kapitalisierten Gemeinwirtschaft, nicht um deren Abschaffung. Die herrschende Bürokratie der Sowjetunion hatte jedoch das Ausmaß der bereits erreichten Individualisierung sowie die Dynamik der regionalen Entwicklungen, vor allem auch die Folgen der Computerisierung unterschätzt, so dass die Lockerung der staatlichen Vorgaben zu einem allgemeinen Zerfall führte. Die "Schocktherapie" Boris Jelzins war Ausdruck dieser Dynamik. Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt. Sein Inhalt bestand darin, die nach-sowjetische gemeinwirtschaftliche Produktionsweise unter Einbeziehung westlicher Impulse und nach dem Abstoßen ineffektiver Ballaste im Lande wie an seinen Außenbereichen auf einem neuen Niveau wieder funktionsfähig zu machen. Auch für ihn galt: Nicht Nachvollzug westlicher Produktions- und Lebensweise, sondern Effektivierung der russischen Gesellschaft mit Anleihen aus dem Westen, der gemeinwirtschaftlichen Ordnung mit Elementen der Privatwirtschaft. Was dabei herauskommen wird, ist offen - auf keinen Fall aber eine einfache Übernahme des im Westen bekannten Kapitalismus. Es entsteht eine Mischkultur, deren widersprüchlichen Elemente die folgenden sind: Auf der einen Seite die Öffnung für internationale Investitionen, der angestrebte Beitritt zur WTO und die Angleichung an deren Standards sowie eine Front mit den USA gegen den internationalen Terror - auf der anderen Seite die Beibehaltung von Staatskapital und staatlichem Zugriff auf Ressourcen, die erklärte Absicht, die eigene Landwirtschaft weiter zu subventionieren, und der Anspruch auf eine Integrationsrolle Russlands für die Völker der russischen Föderation und Eurasiens mit Auswirkung auf die globale Ordnung.
Klar gesprochen: Russland wird sich nicht in eine von den USA und der EU beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine "Sonderrolle" nach wie vor wahrnehmen. Das bedeutet nichts anderes, als für die Länder, die wie es selbst von der asiatischen Produktionsweise geprägt sind, eine Impuls- und Führungsrolle gegen den unipolaren Herrschaftsanspruch der USA einzunehmen und für eine multipolare kooperative Weltordnung einzutreten. Russland kann sich diese Rolle leisten, solange es die Quellen seiner doppelten Autarkie - natürliche Ressourcen und Fähigkeit zur Selbstversorgung - schützt und entwickelt. Jede "Liberalisierung" des Welt-Ressourcenmarktes dagegen sowie jede Verdrängung und Zerstörung der traditionellen Selbst- und Eigenversorgungsstrukturen durch forcierte Fremdversorgung und "Monetarisierung" im Lande selbst schwächen Russland und zerstören tendenziell seine Identität. Erfolg oder Misserfolg russischer Politik, innen- wie außenpolitisch, misst sich an diesen Vorgaben. Wird Putins Politik daran überprüft, dann lässt sich erkennen, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Die Restauration staatlicher Grundelemente, die er durch seine Reformen von oben einleitete, war zweifellos unausweichlich. Die Frage ist allein: Wie weiter? Kann Putin selbst oder können seine Nachfolger die Geister bannen, die sie im Zuge dieser Stabilisierung riefen? Wird die im Rahmen der WTO geforderte Internationalisierung des Energiemarktes und die Monetarisierung des Landes die russische Autarkie beenden oder wachsen unter dem Schutz des von Putin erneuerten bürokratischen Konsenses neue Formen eigener russischer Produktions- und Lebensstrukturen heran, die den Rahmen der WTO sprengen?Signale, die auf Sprengung hindeuten, gab es, als Putin erklärte, dass Russland zwar in die WTO wolle, aber "zu unseren Bedingungen". Von selbst wird das aber nicht geschehen. Neue Anläufe zu einer flächendeckenden Monetarisierung sind für die Zeit nach den Wahlen angekündigt. In den Auseinandersetzungen darum wird sich zeigen, ob Russland ein neues Niveau der Entwicklung erreicht, das Sowjetismus und Kapitalismus gleichermaßen hinter sich lässt. Anders gesagt, es wird sich zeigen, ob Russland eine Symbiose aus Industriegesellschaft und Selbstversorgung zu entwickeln imstande ist, die als soziale Alternative auch internationale Ausstrahlungskraft hätte, oder ob es nur zu einer Restauration alter imperialer Ansprüche reicht.
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