Kasachstan

Der zweite Aralsee

Wellen klatschen gegen den heißen Beton der Anlegestelle. Fischkutter schaukeln angeleint auf dem Wasser. Der Hafen von Kuigan liegt wie ausgestorben in der Mittagshitze. Nur ein paar braun gebrannte Halbwüchsige toben im Wasser herum.

Kuigan ist ein Dorf mit 1.800 Einwohnern, am südwestlichsten Ende des Balchaschsees im Osten Kasachstans. Hier fächert sich der Ili, der größte Zufluss des Balchasch, in zahlreiche kleine Flüsse zum Delta auf. Ganz Kuigan ist durchzogen von Kanälen, die mit Schilf bewachsen sind. Jeder Haushalt hat ein Boot, das Dorf lebt vom Fisch.

Die Fischer nennen den Balchasch „Ozean“

Knapp zweihundert Fischer sind in den vier Kooperativen des Ortes beschäftigt. Einer von ihnen ist Oleg Schumacher, hoch gewachsen, mit stechend blauen Augen und einem wettergegerbten Gesicht. Sein Vater ist als Spätaussiedler nach Deutschland gegangen, Oleg aber bleibt lieber hier. „Was soll ich im Ausland?“, sagt er. „Hier verdiene ich besser als dort.“ Seine Heimat sei hier am Balchasch. Und der ist für ihn nicht nur ein See. „Wir nennen ihn den ,Ozean’,“ sagt Oleg, „denn wenn du bei einem Sturm draußen bist, merkst du, dass er wirklich genauso gefährlich ist.“

Der Balchaschsee, der sich gebogen wie eine Säbelklinge über eine Länge von 600 Kilometern durch die kasachische Steppe zieht, ist der größte See in Zentralasien – jetzt, da der Aralsee fast ausgetrocknet ist. Vom Aral, dem einst viertgrößten Binnensee der Welt, sind heute mehr als zwei Drittel der einstigen Seeoberfläche verschwunden. Auf dem ausgetrockneten Grund ist eine neue Wüste entstanden – und nun droht dem Balchasch das gleiche Schicksal.

Jahrezehnte lang wurde Wasser verschwendet

Ein Grund dafür ist die Jahrzehnte lange Wasserverschwendung in der Landwirtschaft, die schon den Zuflüssen des Aralsees das Wasser abgegraben hat. Vor allem beim Baumwollanbau – einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Zentralasien – müssen die Felder künstlich bewässert werden. Bis heute gehen dabei in maroden Bewässerungskanälen mehr als 50 Prozent des Wassers verloren und versickern.

Für Oleg, den Fischer aus Kuigan, ist es schwer vorstellbar, dass der Balchasch austrocknen könnte. „Nein, das ist unmöglich“, sagt er, „sehen Sie doch, wie viel Wasser der Ili in diesem Jahr hat!“ Tatsächlich ist der Seespiegel, der um um die Jahrtausendwende einen extremen Tiefstand erreicht hatte, in den vergangenen zehn Jahren langsam wieder angestiegen – weil die Gletscher des Tien-Shan-Gebirges, aus denen die Zuflüsse kommen, durch den Klimawandel schneller schmelzen. Es gibt wieder reichlich Fisch im Ili und im Balchasch. Und weder kasachische Politiker noch die ohnehin staatlich gelenkten Medien sehen deshalb bisher eine Notwendigkeit, die Öffentlichkeit über die drohende Gefahr für den Balchaschsee zu informieren.

Kasachstan vermeidet Kritik an China

Gefährdet ist der Balchasch auch wegen seiner Nähe zu China: Zu 80 Prozent wird er aus dem Ili gespeist. Der kommt aus der westchinesischen Provinz Xinjang, die unmittelbar an Kasachstan grenzt. Dort entstehen derzeit zahlreiche Staudämme, die die Wasserzufuhr des Flusses kappen.
Dschakup Dostaj, Hydrologe am Geographischen Institut in Almaty, blickt mit Sorge zum großen Nachbarn. „China beginnt, seinen Westen wirtschaftlich zu entwickeln. Dort hat man Erdöl und -gas gefunden, aber es gibt kein Wasser.“

An den zwölf größten Flüssen in Xinjiang – einer davon ist der Ili – werden derzeit 27 Staudämme und Rückhaltebecken gebaut, Kosten: rund 212 Millionen Euro. „Wenn die Dämme fertig sind, fließen zwei Drittel weniger Wasser aus China nach Kasachstan“, fürchtet Hydrologe Dostaj. Für den Balchaschsee wäre das das Aus. Mit maximal zehn Metern Wassertiefe ist der See sehr flach. Fließt weniger Wasser durch die Zuflüsse hinein, schrumpft die Oberfläche innerhalb weniger Jahre. Die ausgedehnten Schilfgebiete am Rande des Balchasch, Unterschlupf für zahlreiche Vogel- und Fischarten, wären in Gefahr. Und die zwei Millionen Menschen, die von Fischfang und Landwirtschaft am Balchasch und seinen Zuflüssen leben, müssten um ihre Lebensgrundlage bangen.

Trotz der wirtschaftlichen und sozialen Brisanz sind Kasachstan und China bisher weit davon entfernt, sich über die Nutzung des Ili zu einigen. Zwar wurde schon im Jahr 2001 eine kasachisch-chinesische Kommission zur Nutzung grenzüberschreitender Flüsse gebildet. Doch ein bilateraler Vertrag enthält lediglich Absichtsbekundungen, rechtlich bindend ist er nicht. Malik Burlibajew, Wasserexperte bei der Kasachischen Agentur für angewandte Ökologie, kritisiert: „Seit Jahren verhandeln wir mit China. Doch es geht lediglich um Messmethoden“. Seine Forderung: „Wir müssen genaue Absprachen treffen, welches Land wie viel Wasser aus welchem Fluss entnehmen darf.“ Doch kasachische Politiker – durch die Wissenschaftler gut informiert – vermeiden Kritik an China. Denn der Nachbar ist einer der wichtigsten Wirtschaftspartner Kasachstans. Und China spielt auf Zeit, setzt den Ausbau des Westens fort, ohne Rücksicht auf die kasachischen Sorgen.

Anbauflächen, doppelt so groß wie der Berliner Flughafen Tegel

Hinzu kommt: Auch die kasachische Seite geht großzügig mit der Ressource Wasser um und gefährdet den Balchasch damit zusätzlich. 150 Kilometer östlich von Kuigan wird das Dorf Bach-Bachty von einer riesigen Wanderdüne bedroht. Noch etwa 70 Meter trennen den Sand vom ersten Haus. Dennoch wird rund um das Dorf Reis angebaut – und der muss künstlich bewässert werden. Denn die zarten Pflanzen wachsen nur dann, wenn sie unter Wasser stehen und regelrecht überschwemmt sind.

Akylbek Botbajew ist Vorarbeiter der landwirtschaftlichen Kooperative, die hier auf 1.000 Hektar Reis anbaut, eine Fläche doppelt groß wie der Berliner Flughafen Tegel. „Reis“, sagt Botbajew, „ist sehr empfindlich. Es ist eine Kunst, auf allen Feldern genau den richtigen Wasserstand einzustellen.“ Stolz zeigt er zwischen saftig grünen Reisfeldern, wie der Wasserstand reguliert wird – mit einfachen Schiebern zwischen den Kanälen, die per Hand geöffnet oder geschlossen werden „Alles ohne Pumpen, das Wasser folgt einfach der Schwerkraft.“

Wenn jemand etwas unternimmt, dann die Wissenschaftler

Das Wasser für die Reisfelder und für weitere 2.000 Hektar bewässerte Anbaufläche kommt aus dem Ili, der ein paar Kilometer entfernt vorbei fließt. Die offenen Kanäle sind zum großen Teil unbefestigt, viel Wasser versickert im Boden. Dass der Ili in naher Zukunft weniger Wasser führen wird, beunruhigt den Landwirt nicht. „Es ist ja noch genug Wasser da“, meint Botbajew.

„Für den Fall, dass der Seespiegel des Balchasch unter ein kritisches Level sinkt,“, sagt der deutsche Hydrologe Martin Lindenlaub, der am regionalen ökologischen Zentrum für Zentralasien CAREC in Almaty arbeitet, „könnte ein Notfallplan helfen.“ Der müsste im Fall einer Wasserkrise regeln, in welcher Reihenfolge und Menge die verschiedenen Nutzer noch Wasser aus den Flüssen entnehmen könnten – und wer unter Umständen leer ausgeht. Doch an einem solchen Plan wird auf kasachischer Seite bisher nicht gearbeitet. Stattdessen schieben die Politiker Kasachstans die Verantwortung allein China zu.

Wenn jemand etwas unternimmt, sind es die Wissenschaftler – auch wenn sie nicht unabhängig von der Politik agieren. So planen Dschakup Dostaj und Malik Burlibajew demnächst eine Expedition zusammen mit chinesischen Kollegen. Gemeinsam wollen sie den Balchasch und seine Zuflüsse vermessen, denn gemeinsame Daten – die Basis für konkrete Absprachen – liegen beiden Seiten bisher nicht vor. „Wir Wissenschaftler“, sagt Hydrologe Dostaj, „sind uns einig: Die Zeit drängt.“ Ob die Ergebnisse der Expedition eine entscheidende Wende für den Balchasch bedeuten, bleibt fraglich. Kasachstan setzt auf die Brisanz der Daten und hofft, mit China zu einer Einigung zu kommen. Ob die chinesische Politik sich damit beeindrucken lässt, steht auf einem anderen Blatt.


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