"Referendum über Europa"
Nach Ansicht des serbischen Außenministers Vuk Jeremic ist das Sonderabkommen, das die EU seinem Land angeboten hat, eine "Einladung Serbiens in die europäische Völkerfamilie". Über die Zustimmung zum Vertrag könne das serbische Volk nun bei der Präsidentenwahl am Sonntag entscheiden. Im Klartext: Jeremic hofft, dass das Angebot der EU dem prowestlichen Amtsinhaber Boris Tadic in der Stichwahl zum Sieg über den ultranationalistischen und russlandorientierten Herausforderer Tomislav Nikolic verhilft. In Umfragen liegen beide Bewerber Kopf an Kopf.
Die EU-Außenminister hatten am Montag beschlossen, Serbien ein Abkommen über Freihandel, politischen Dialog, Visaerleichterungen und Bildung anzubieten, um dem europafreundlichen Präsidenten Boris Tadic den Rücken zu stärken. Die Mehrheit der EU-Staaten wollte sogar ein noch deutlicheres Signal setzen und Serbien zur Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens (SAA) einladen. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch am Widerstand der Niederlande und Belgiens, die auf einer vorherigen Auslieferung des in Serbien vermuteten und wegen Völkermordes angeklagten Ex-Generals Ratko Mladic ans Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag bestanden. Der nun einstimmig beschlossene Interimsvertrag hätte bis zur Unterzeichnung des SAA Gültigkeit. Er soll allerdings erst am 7. Februar und damit nach der Stichwahl unterschrieben werden. Diese nannte Jeremic nun ein "Referendum über Europa". Der Außenminister gehört der von Boris Tadic angeführten Demokratischen Partei (DS) an. Der zusehends europakritische Premierminister Vojislav Kostunica, Vorsitzender der Demokratischen Partei Serbiens (DSS), hat sich bislang nicht zum vorgeschlagenen Abkommen mit der EU geäußert.
Beobachter bezweifeln allerdings, dass das Angebot Brüssels dem unter massivem Druck stehenden Tadic bei der Stichwahl wirklich viel nützt. Wäre "das richtige" SAA unterschrieben worden, hätte dies Tadic bestimmt einen Schub verliehen, sagte der Politologe Marko Blagojevic dieser Zeitung. Der Direktor des Belgrader Meinungsforschungsinstitutes Cesid schließt nicht aus, dass die Entscheidung Brüssels gar "ein gefundenes Fressen für Tadics Gegner" sei: "Sie können nun argumentieren: Wenn die EU Serbien wirklich will, hätte sie auch das SAA unterschrieben." Das Problem sei, so Blagojevic, dass die Proeuropäer rund um Tadic dem serbischen Volk die Unterzeichnung des SAA versprochen hätten. "Dies können sie nun nicht einhalten.
"Tadic versucht derweil, nicht die geringsten Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass er sein Land entschlossen nach Europa führen will. Serbien werde bis Ende 2008 den Status des EU-Beitrittskandidaten erreichen, gab er sich in einem Fernsehinterview zuversichtlich. Für den Widerstand Belgiens und der Niederlande gegen die Unterzeichnung des SAA zeigte Tadic Verständnis. Dies habe Serbien "die Wirklichkeit" vor Augen geführt, aber auch verdeutlicht, dass "jedes Mitgliedsland der EU seinen eigenen Standpunkt hat". Serbien müsse vollständig mit dem Haager Tribunal zusammenarbeiten, sagte der Präsident. Tadics Aussagen klangen wie eine Antwort auf den Aufruf einer Reihe bekannter serbischer Nichtregierungs-Organisationen. Darin hatten international angesehene Menschenrechtlerinnen wie Natasa Kandic und Sonja Biserko Präsident Tadic aufgefordert, unmissverständlich klar zu machen, dass er für ein offenes und europäisches Land stehe. Sonst laufe er Gefahr, dass die proeuropäischen Wähler am Sonntag zu Hause blieben.
Tadic landete in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl mit 34,4 Prozent nur auf dem zweiten Platz. Sein nationalistischer Gegner und Führer der oppositionellen Serbischen Radikalen Partei (SRS), Tomislav Nikolic, kam auf 40 Prozent. Um diesen Rückstand aufzuholen, braucht Tadic nicht nur alle Stimmen des klar proeuropäischen Lagers. Er ist auch auf einen großen Teil der Anhänger von Premierminister Kostunica angewiesen. Die Belgrader Tageszeitung "Blic" meldete, sie habe Informationen, dass Kostunica keine Wahlempfehlung abgeben werde, was einem Affront gegenüber Regierungspartner Tadic gleichkäme. Kostunicas DSS hatte die Unterstützung Tadics von einer Änderung des Koalitionsvertrages abhängig gemacht. Im Vorschlag der DSS heißt es, das bereits paraphierte SAA verliere seine Gültigkeit, falls die EU ihre im Grundsatz bereits beschlossene zivile Polizei- und Rechtsstaatsmission ins Kosovo entsende. Tadic, der gegen eine Verknüpfung der EU-Integration seines Landes und der Kosovo-Frage ist, hatte diese Forderung unmissverständlich zurückgewiesen. Sollte Tadic die Präsidentenwahl verlieren, rechnen immer mehr Beobachter mit einem Auseinanderbrechen der serbischen Regierung.