Europäische Zukunft Serbiens steht auf dem Spiel
Der vielleicht wichtigste Wahlgang in Serbien seit dem Sturz Slobodan Milosevics im Jahr 2000 war ein überraschend leidenschaftsloses Ereignis. In der ersten Runde der Präsidentenwahlen standen am Sonntag zwar insgesamt neun Kandidaten zur Wahl. Im Grunde ging es jedoch um eine Richtungsentscheidung zwischen dem Ultranationalisten Tomislav Nikolic (Serbische Radikale Partei, SRS) und dem pro westlichen Amtsinhaber Boris Tadic (Demokratische Partei, DS). Nikolic, der rund 39 Prozent der Stimmen erhielt, steht für eine engere Anlehnung an Russland. Tadic, mit rund 35 Prozent der Stimmen knapp geschlagen, möchte Serbien schnellstmöglich in die EU führen. Beide Kandidaten lehnen eine Unabhängigkeit des Kosovo ab, doch während Tadic auf Verhandlungen setzt, übt sich Nikolic in Kriegsrhetorik. Da wie erwartet keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt, kommt es am 3. Februar zwischen Nikolic und Tadic zur Stichwahl.
Zwar gab es im Wahlkampf ein paar Exzesse in der Provinz, als gegnerische Aktivisten aufeinander losgingen. Doch die Atmosphäre im Lande blieb eher lau. Eine gewisse Müdigkeit und auch Enttäuschung dämpften die Emotionen. Trotzdem waren am 20. Januar, einem vorfrühlingshaften Sonntag, viele Menschen unterwegs - wenn auch nicht alle in Richtung Wahlurnen.So zum Beispiel Ivan Dzidic: "Meine Bürgerpflicht tue ich diesmal nicht. Wenn mir in einem Schuhladen die Auswahl nicht gefällt, dann gehe ich auch wieder raus ohne was zu kaufen." Der 61-Jährige aus der bosnisch-herzegowinischen Stadt Mostar lebt seit Anfang der 90er Jahre, als der Krieg in Bosnien ausbrach, in Serbien. Einem möglichen Sieg der Radikalen im nächsten Wahlgang sieht der Publizist gelassen entgegen: "Nikolic will sich nicht ernsthaft der Verantwortung stellen", schätzt er ein. Und Tadic begrüße die Wähler mittlerweile schon mit drei erhobenen Fingern - dem serbisch-nationalistischen Gruß, feixt er.
Sogar Willi Brandt muss dafür herhalten, wenn die serbischen Nationalisten Stimmung gegen die Abtrennung des Kosovos machen / Dagmar Vohburger, n-ost
Nachdem die Wahlbeteiligung in der Vergangenheit vor allem unter jungen Menschen dramatisch niedrig war, postierten sich Vertreter verschiedener Studentenorganisationen sowie Mitglieder der Studentenzeitung "Student" in der Belgrader Fußgängerzone, der Kneza Mihailova. Ihr kleiner Stand ist flankiert von mehreren Meter hohen Lautsprechern aus denen Bob Marleys Reggaeklassiker "Stand up for your right" in Ohren betäubender Lautstärke dröhnt. Die jungen Leute wollen ihre Altersgenossen mit einer kostenlosen Zeitung, einer erschreckenden Wählerstatistik und einer kleinen Schokobanane motivieren, doch noch ihre Stimme abzugeben. Laut ihrer Statistik hätten im Jahre 2004 über 97 Prozent Strafgefangene, über 93 Prozent Rentner aber nur knapp über zehn Prozent junger Menschen ihren Staatspräsidenten gewählt.
Ranko Markovic, vom Verbund der Belgrader Studenten (SSB), spricht die jungen Leute an. Der Physikstudent ist besorgt. "Wir versuchen gerade diesmal die Menschen zu mobilisieren, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen." Der 25-Jährige aus Prijepolje, einer Grenzstadt zu Montenegro, scheint dennoch skeptisch: "Ich weiß nicht, ob es uns gelingt, aber wir geben uns wirklich Mühe." Laut der nach dem ersten Wahlgang veröffentlichten Statistiken ist seine Rechnung aufgegangen: Serbien verzeichnet mit 61 Prozent die höchste Wahlbeteiligung seit der demokratischen Wende im Jahr 2000.
Auch für andere ist diese Wahl mehr als nur eine Bürgerpflicht. Die Rechtsanwältin Jovanka Jovanovic nimmt kein Blatt vor den Mund: "Ich und meine ganze Familie wählten Cedomir Jovanovic, den einzigen, der die Reste der bürgerlichen Aufrichtigkeit und Zivilcourage verteidigt." Schamlosen Hasstiraden sei er ausgesetzt worden, durch regierungsnahe Medien oder geheimdienstlich gesteuerte Boulevardblätter. "Die Kandidaten der anderen Parteien paktieren entweder mit dem Nationalismus oder mit Tykoonen, meist mit beiden", prangert die Belgraderin die serbische Politelite an. Bezeichnend findet es die Juristin, dass die Wahlkommission mit der konservativ-rechtsradikalen Mehrheit die amerikanische und westeuropäische Beobachtung bis zum letzten Moment nicht zugelassen habe.
Belgrader Studenten versuchen deshalb in der Fußgängerzone ihre Altersgenossen zur Stimmabgabe zu bewegen / Dagmar Vohburger, n-ost
Nicht nur der Anwältin scheint das von dem im Jahre 2003 ermordeten Ministerpräsidenten Zoran Djindjic herbeigesehnte andere - europäische - Serbien immer noch in allzu großer Ferne. So kommentiert Computerfachmann Stanislav Stanojev nach Verlassen eines der 8481 Wahllokale: "Ich habe gerade meinen Job verloren, dank eines Ministers aus der demokratischen Regierung, dem auch ich zur Macht verholfen habe, dadurch dass wir als Familie Tag und Nacht gegen Milosevic demonstrierten. Ich verstehe, das Land ist in einer Übergangsphase, aber diese Übergangsphase dauert bei uns schon 20 Jahre." Seine Frau Vesna fügt an: "Unser Sohn ist Ingenieur und muss zum Arbeiten nach Bosnien, weil man hier an die Stellen nur mit guten Parteikontakten kommt. Aber dafür haben wir doch nicht gekämpft!"
Das Kosovo ist dank der politischen Elite Serbiens wieder zum thematischen Highlight avanciert und wird wohl auch im zweiten Wahlgang als profilierungsträchtiger Zankapfel herhalten müssen. Das Ganze hat sich inzwischen zu einer trotzigen Auseinandersetzung des erstarkten serbischen Nationalismus mit dem Westen hochgeschaukelt. Da sind alle Mittel recht: Sogar die deutsche Politikone, der ehemalige Bundeskanzler Willi Brandt, wird verzerrt auf einem Großplakat gegen die Abspaltung des Kosovos zitiert: Statt "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört" liest man: "Das, was untrennbar ist, muss zusammenbleiben und zusammenwachsen". Darunter steht: "Das Kosovo ist Serbien!" Der Nutznießer dieser Entwicklung ist die stärkste Partei des Landes, die Serbische Radikale Partei (SRS). Ihr Kandidat für die Stichwahl, Tomislav Nikolic, wird im Volksmund auch "Toma Grobar" - "Totengräber Toma" - genannt, in Anspielung auf seinen früheren Beruf als Leiter eines Bestattungsunternehmens. Er tritt an, weil der eigentliche Spitzenmann der SRS, Vojislav Seselj, als angeklagter Kriegsverbrecher in Den Haag einsitzt.
Sein Kontrahent, der jetzige Amtsinhaber, Boris Tadic von der Demokratischen Partei (DS), sieht sich in seiner staatsmännischen Rolle als Nachfolger des ermordeten Zoran Djindjic. Nach Umfragen ist Tadic der beliebteste Politiker Serbiens. Ihm fehlt in der zweiten Wahlrunde aber immer noch die eindeutige Unterstützung seines Koalitionspartners, des konservativen Ministerpräsidenten Vojislav Kostunica. Der liebäugelt weiter mit den nationalistischen Thesen der Radikalen. In der ersten Runde unterstützte Kostunica den Erznationalisten, Velja Ilic (Neues Serbien, NS), offiziell gegen Tadic. Ilic sammelte so 7,6 Prozent der Stimmen. Wer von den beiden verbliebenen Kandidaten im Februar mit diesen Stimmen rechnen kann, bleibt ungewiss.Etwas anders stellt sich die Sache bei dem mit 5,6 Prozent ausgeschiedenen Jovanovic dar. Dessen Anhänger werden nun wahrscheinlich Tadic als für sie kleineres Übel wählen, um Nikolic aus dem Rennen zu boxen.