Russland

Moskau im Kunstrausch

Die vierte Moskauer Biennale für zeitgenössische Kunst läuft noch bis zum 30. September. Ein Besuch lohnt sich, denn die Ausstellung ist aufregend anders. Unter dem Motto „Rewriting Worlds“ versammeln sich Kunstwerke von Neo Rauch bis zu Toninstallationen der Russen Alexej Borisow und Olga Nosowa. Auch die Eurokrise ist ein Thema. Kurator ist der Österreicher Peter Weibel.

Moskau (n-ost) – Für die Komposition der Moskauer Biennale ist in diesem Jahr der Österreicher Peter Weibel verantwortlich. Er spricht mit Künstlern, Organisatoren und Journalisten – und begutachtet jedes einzelne Werk. Der 67-Jährige lässt sich vom Zeitdruck bei seiner Biennale nicht aus der Ruhe bringen. Innerhalb weniger Tage mussten mehr als 70 Exponate im „ARTPLAY Design Center“ aufgebaut werden. Es befindet sich auf Gelände des Kunstareals „Winsawod“ mit seinen vielen kleinen Galerien. Mit der weiläufigen Halle und ihren 6.000 Quadratmetern gibt es nun einen neuen Raum für zeitgenössische Kunst in Moskau – auch über die Biennale hinaus. Der österreichische Künstler Martin Walde sagt: „Es ist das erste Mal, dass ich nicht mit anderen um meinen Platz rangeln musste.“

Großzügig wurden die Werke platziert, auch die von Martin Walde. Seit 30 Jahren macht er Kunst und hatte schon mehr als 200 Ausstellungen. Wenn es darum geht, seine Kunst auf eine Formel zu bringen, tut er sich schwer. Es habe sich in der Vergangenheit viel mit Aggregatzuständen beschäftigt, erklärt er, zum Beispiel dem Übergang von fest in flüssig. Damit wolle er zeigen, wie prozesshaft alles ist. Auch seine beiden Kunstwerke bei der Moskauer Biennale demonstrieren das. „Solaris“ aus dem Jahr 1995 ist nicht mehr als weißer Maisgrieß auf einem schwarzen Tisch und ein Aschenbecher. Der Besucher soll daraus selber ein Kunstwerk kreieren.

Die Einbindung des Publikums ist auch Kurator Peter Weibel besonders wichtig. Deshalb hat er viele Exponate ausgewählt, die den Besucher auffordern, sich zu beteiligen. „Solaris“ von Martin Walde wirkt in dieser Zusammenschau ein bisschen verloren. Die Russen mögen es, wenn Kunst effektvoll daher kommt, oder glamourös. Waldes Werk hingegen ist simpel und philosophisch. Dabei hätte der 54-Jährige gerne aufwändigere, großformatige Glasarbeiten gezeigt. Die waren aber zu schwer und damit zu teuer für den Transport. Denn das Budget für die Moskauer Biennale wurde kurzerhand von 2,5 Millionen Euro auf eine Million Euro heruntergefahren.

Kurator Peter Weibel sieht Moskau als neues Machtzentrum der zeitgenössischen Kunst, weil es hier durch die russischen Oligarchen „ein Mäzenatentum wie in der Renaissance“ gebe. Die Oligarchen finden es schick, zeitgenössische Kunst zu fördern und sich darüber beim Dinner auszutauschen. Allerdings krankt das Konzept an einem Systemfehler: So will man bei der Biennale auf der einen Seite internationale Künstler zeigen, aber auf der anderen Seite nicht allzu viel Geld dafür ausgeben. Deshalb hat man den meisten Künstlern, die nach Moskau gereist sind, nicht mal den Flug bezahlt, von Übernachtungen ganz zu schweigen. Der Österreicher Martin Walde ist auf eigene Rechnung gekommen, weil er glaubt mit einer Biennale ein größeres Publikum zu erreichen – „außerdem ist die Biennale so etwas wie eine Blockbustershow und Teil davon zu sein macht mich natürlich auch stolz.“

Stolz ist auch Peter Weibel, weil sein Konzept aus vielen anderen Bewerbungen ausgewählt wurde. In Karlsruhe leitet er das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) und hat sich in der Vergangenheit viel mit Medienkunst auseinandergesetzt. So sieht man bei der Biennale nicht nur Malerei und Skulptur, sondern auch viele Ton- und Videoinstallationen, erstmals auch von russischen Künstlern. Bislang hat Weibel Großveranstaltungen, und eine Biennale ist so eine Großveranstaltung, grundsätzlich abgelehnt. Jetzt hat eine 180-Grad-Wende vollzogen, weil er sagt: „Es zeigt sich immer mehr, dass die Biennale zu einer Form geworden ist, der zeitgenössischen Kunst ein echtes Forum zu bieten.“ Denn zeitgenössische Kunst schafft es derzeit weder in den Markt noch in große Museen. Die Biennale ist also zur ultimativen Plattform geworden – und die zahlenmäßige Entwicklung bestätigt diese Annahme: Innerhalb von wenigen Jahren hat sich die Zahl der weltweiten Biennalen von 10 auf 100 verzehnfacht.

Das Thema der vierten Biennale in Moskau lautet „Rewriting Worlds“, auf Deutsch „umgeschriebene Welt“. Damit meint Kurator Weibel, dass die Welt wie sie existiert ständig umgeschrieben werde – gerade durch die Revolution im arabischen Raum sei das deutlich geworden. Bei der Ausstellung werden die Unruhen in Ägypten und Tunesien aber nicht thematisiert, dafür die Eurokrise. Die französische Künstlergruppe Claire Fontaine hat die Länder Spanien, Italien und Griechenland aus 360.000 Streichhölzern zusammengesetzt und will damit sagen: Diese Staaten sind leicht entflammbar.

Mehr als 70 Exponate sind im „ARTPLAY Design Center“ zu sehen, zehn weitere in der „Tsum Art Foundation“, im obersten Stockwerks des Luxuseinkaufszentrums „Tsum“ unweit des Bolschoi-Theaters. Die Exponate sind gegenständlich und realistisch – und damit anders als bei früheren Biennalen nicht mehr abstrakt und modern. Und: Sie beschäftigen sich mit sozialen und politischen Themen. Auf Systemkritik an Russland und der orthodoxen Kirche hat Kurator Peter Weibel bewusst verzichtet, bei früheren Moskauer Biennalen haben genau solche Werke für Aufsehen gesorgt. Weibel findet es „ungerecht, wenn die Aufmerksamkeit nur auf ein Kunstwerk gelenkt wird“. Das heißt nicht, dass die Ausstellung unkritisch oder apolitisch ist. Sie kritisiert zum Beispiel die Siedlungspolitik Israels und prangert die Verletzung der Menschenrechte in den USA an. „Aber ich habe keine Themen gesucht, die ich vulgär finde und womit ich nur die Sensationsgier mancher Journalisten befriedige“, erklärt Weibel.

Die Werke geben nicht selten Einblick in Probleme, von denen man in Russland wenig weiß – zum Beispiel die Unterdrückung der chinesischen Minderheit in Indonesien, die es zwischen 1975 und 2000 gegeben hat. Das Kunstwerk von FX Harsono macht diese Unterdrückung deutlich, indem er seinen chinesischen Namen auf 176 weiße Blätter geschrieben und sich dabei gefilmt hat. „Rewriting the erased“ heißt das Werk, weil sich FX Harsono bis 2000 nicht mit seinen chinesischen Wurzeln beschäftigt hat und heute sagt: „Gerade der Name ist identitätsstiftend und man muss doch wissen wo man herkommt.“

Die Kunstwerke bei der Biennale könnten unterschiedlicher kaum sein – und genau das zeichnet die Qualität der Ausstellung aus. Sie zeigt eine Bronzeskulptur des bekannten Leipziger Künstlers Neo Rauch, sie zeigt aber auch eine Toninstallation der beiden Russen Alexej Borisow und Olga Nosowa. Sie bietet neue Seherfahrungen mit einem Werk von Olafur Eliasson, thematisiert aber auch in einer Plastik des Koreaners Kijong Zin unsere Abhängigkeit von natürlichen Energieressourcen.

Peter Weibel wurde 1944 in Odessa geboren und mit seinen Eltern als Baby nach Österreich gekommen. Russisch spricht er nicht, weil er zu der Minderheit der Schwarzmeerdeutschen gehört. Auch heute noch hat er Verwandte im kasachischen Almaty. Mit der Biennale will er einen Beitrag leisten, damit die Kunstszene in Russland international stärker wahrgenommen wird. Und dabei ist die besondere Verbundenheit mit Osteuropa durch seinen Geburtsort nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, dass zeitgenössische Kunst in Russland nicht wie immer angenommen noch in den Kinderschuhen steckt sondern durchaus mithalten kann mit internationalen Kunstzentren wie New York, London oder Peking. Das beste Beispiel: Das Moskauer zeitgenössische Museumszentrum „Garage“ macht regelmäßig Ausstellungen mit dem New Yorker Museum of Modern Art (MoMA). Und das MoMA ist bekanntlich einer der wichtigsten Indikatoren für Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunstszene.


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