Osteuropas Sündenböcke
Eine Welle der Gewalt gegen Roma geht seit fast einer Woche durch Bulgarien. Im Nordwesten Tschechiens, nahe der deutschen Grenze, marschieren Demonstranten seit mehr als einem Monat gegen Roma auf. Das sind derzeit nur die prominenten, aber nicht die einzigen Fälle, in denen Bürger osteuropäischer Länder gegen eine ganze Volksgruppe vorgehen und kollektive Strafmaßnahmen fordern oder sogar verüben. Paramilitärische Aufmärsche und Schikanen selbsternannter Ordnungshüter gegen Roma gehören in Ungarn seit langem zum Alltag, in der Slowakei und Rumänien wurden jüngst in zwei Orten Mauern gebaut, um Roma und Nicht-Roma zu trennen. Manchmal werden Häuser der Roma angezündet, sie werden von ihren Wohnorten vertrieben oder, wie in Ungarn, wo 2008/2009 eine brutale rechtsterroristische Mordserie stattfand, „liquidiert“.
Die Gewalt gegen Roma in Osteuropa ist in den letzten Jahren zu einem flächendeckenden Phänomen geworden. So dass der ungarische Roma-Aktivist Aladár Horváth, sonst eigentlich kein Freund alarmistischer Diagnosen, die Roma als eine „schutzlose Minderheit“ bezeichnet – Bürger, um die sich der Staat praktisch kaum noch kümmert.
Das Schema ist immer dasselbe: Individuelle Straftaten, reale ebenso wie erfundene, die den Roma kollektiv angelastet werden, haben gewalttätige Ausschreitungen gegen die gesamte Minderheit zur Folge. Tatsächlich könnten viele dieser Ausschreitungen verhindert werden, wenn die Ordnungskräfte in den betreffenden Ländern nur konsequent vorgehen würden – gegen einzelne Straftäter unter den Roma ebenso wie gegen rassistische Gewalt auf Seiten der Mehrheitsbevölkerung.
Doch die Roma eignen sich gut als Sündenböcke. Sie stehen am untersten Rand der Gesellschaft, sie haben keine Lobby, sie sind politisch schlecht organisiert. Der Rassismus gegen sie ist ein gesellschaftlicher Konsens, der von einem Großteil der herrschenden Eliten legitimiert wird. In Ungarn beispielsweise rechtfertigt der Regierungschef Viktor Orbán die Gewalt gegen Roma indirekt mit deren mangelndem Integrationswillen, in Rumänien beschimpfte der Staatschef Traian Basescu eine Journalistin als „dreckige Zigeunerin“.
Dieses Hassklima wird begünstigt durch die globale Wirtschaftskrise, die viele osteuropäische Länder besonders schwer trifft. Der ungarische Philosoph, frühere Bürgerrechtler und heutige neomarxistische Analytiker Gáspár Miklós Tamás spricht von einer rechtsradikalen Erhebung des Mittelstandes in Osteuropa, dessen Ursache die Statuspanik sei. „Es gibt in den osteuropäischen Gesellschaften einen staatsabhängigen Mittelstand, dessen Lage sehr unsicher ist und der deshalb immer tiefer in eine rechte Hysterie verfällt.“ Es gehe darum, wer die knappen staatlichen Gelder bekomme, so Tamás. Im Ressourcenkampf kriminalisiere der Mittelstand seine Konkurrenten.
Doch das Geflecht der Ursachen für die ausufernde Gewalt gegen Roma in Osteuropa ist komplexer. Die große Mehrheit der Roma lebt in tiefster Armut und hat ein immenses Modernisierungsdefizit. Die extrem prekären Lebensbedingungen - Analphabetismus, fehlende Gesundheitsvorsorge, Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit von geringfügigen staatlichen Hilfen – oder ein Abgleiten in Prostitution und Kleinkriminalität sind in vielen Roma-Gruppen seit mehreren Generationen das gültige Existenzmodell.
Weder die einzelnen osteuropäischen Länder noch die EU haben eine kohärente Strategie erarbeitet, um den betroffenen Roma aus dieser Situation herauszuhelfen. Zwar stellen die Staaten der Region und die EU immer wieder Hilfsgelder für Roma in Millionenhöhe zur Verfügung, doch das Geld versickert in Behörden oder bei Roma-Organisationen selbst. Letzteres konstatierten selbstkritisch auch einige wenige namhafte Roma-Aktivisten wie der rumänische Soziologe Nicolae Gheorghe, lange Jahre Roma-Beauftragter der OSZE. Die Roma-Eliten in Osteuropa hätten es nicht geschafft, sagt er, der Mehrheit der Roma auch nur punktuell aus ihrem Elend zu helfen. Stattdessen gebe es inzwischen überall in Osteuropa eine kleine, verbürokratisierte Roma-Elite, die Fördergelder konsumiere.
Wer die Ursachen für die Gewalt gegen Roma in Osteuropa ergründet, kommt an einem besonders traurigen Aspekt nicht vorbei: die praktische inexistente Empathie osteuropäischer Eliten für Roma, für ihre sozialökonomische Situation, für die Opfer von Gewalttaten. Nirgendwo in Osteuropa gibt es einen „Aufstand der Anständigen“, kein Politiker versucht ihn auszurufen. „Die politischen Eliten in der Region müssten sich ganz entschieden von rassistischer Gewalt abgrenzen“, sagt die Budapester Roma-Aktivistin und Rechtsanwältin Tímea Borovszky. „Doch das geschieht nicht. Und das ist schlimmer als die Gewalt an sich.“