Bulgarien

Ausgerechnet Bulgarien

Wie ein überdimensionales Mikroskop richtet der bulgarische Regisseur Christo Bakalski seine Kamera auf die Familie der deutschen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff. Er fährt an Originalschauplätze in Berlin, in Burgas am Schwarzen Meer und ins südbulgarische Plovdiv und fängt alles ein: verpasste Momente, Versöhnung, die Fähigkeit, die Schwächen des anderen zu ertragen. Aus diesem Gemenge webt er vergangene Familiengeschichte neu und zeichnet in einer sehenswerten Dokumentation das Schriftstellerleben der Schrobsdorff nach.

Bakalskis Film "Ausgerechnet Bulgarien" zeigt Menschen auf der Suche nach ihrer Identität zwischen den Kulturen. Geht eine Familie daran kaputt, wenn sie zerrissen zwischen den Ländern und den Kulturen lebt? Und wo fühlt sich einer zu Hause? Weil die private Geschichte der Familie Schrobsdorff als exemplarisch gelten kann für den Zustand und die Entwicklung der Gesellschaft, in der sie existierte, erlebt der Zuschauer in "Ausgerechnet Bulgarien" ganze Epochen nach. Fast ist es so, als würden die Protagonisten aus den Büchern der Angelika Schrobsdorff ein Eigenleben entwickeln und so beleuchten, was nicht in ihren Büchern nachzulesen ist. Und weil auch die Zerrissenheit dieser Familie nur ein Beispiel ist für viele ähnliche Schicksale, widmet der in Berlin lebende bulgarische Regisseur seinen Film "allen Menschen, denen es ähnlich geht".

1939 flüchtete die jüdische Mutter der damals 12-jährigen Angelika in eine Scheinehe mit einem Bulgaren, um Deutschland mit ihren beiden Töchtern verlassen zu können. Die Warmherzigkeit und Freundlichkeit der Bulgaren halfen Angelika und ihrer Schwester Bettina damals, schnell wieder Fuß fassen. "In Deutschland wäre ich eine höhere Tochter geworden", sagt die Schriftstellerin im Rückblick.Das Schicksal aber will es anders. Schrobsdoffs Vater, ein deutscher Geschäftsmann aus dem preußischen Großbürgertum, bleibt in Berlin.

Ihre Mutter rettet sich zu einer Zeit nach Sofia, in der Bulgarien für die meisten Berliner noch weitgehend unbekannt ist. In diesem abgelegenen Land lernt Angelika eine fremde Welt kennen, in der sie Freunde findet. Sie besucht das katholische Lyzeum Santa Maria in Sofia, an dem deutsche Nonnen unterrichten. Die junge Schrobsdorff ist von der Kameradschaftlichkeit ihrer bulgarischen Mitschülerinnen fasziniert - und schließt Freundschaften, die für Jahrzehnte halten sollen.

Als sie, inzwischen eine betagte Schriftstellerin, nach Sofia fährt, um aus ihrem Buch "Du bist nicht wie andere Mütter" vorzulesen, sitzen im Publikum die Freundinnen von damals. Sie greifen zum Mikrofon und erzählen bewegt: "Angelika, in all diesen Jahren hat sich unsere Klasse regelmäßig getroffen, dabei haben wir immer wieder von Dir gesprochen. Komm uns doch öfter besuchen". Gründe, heute mehr Zeit in Bulgarien zu verbringen, hat Angelika Schrobsdorff genug. Schließlich leben drei Generationen ihrer Familie in Burgas und in Plovdiv.

"Ich habe ernsthaft überlegt, nach Bulgarien zu ziehen", erzählt die 80-Jährige. Zum einen ist der Schriftstellerin aber die deutsche Sprache wichtig, zum anderen findet sie: "Es stirbt sich bequemer in Berlin". Deshalb hat sie sich die Stadt als letzte Station ihres Lebens ausgewählt. Schrobsdorffs Verbundenheit mit Bulgarien aber bleibt. Ihre Bücher "Die Reise nach Sofia" oder "Grandhotel Bulgaria" erzählen von aktuellen Erlebnissen in Bulgarien und liefern eine differenzierte Beschreibung der heutigen Situation im Land. Gerade deshalb lesen zahlreiche deutsche Diplomaten Schrobsdorffs Werke, bevor sie nach Bulgarien gehen. In diesem Sinne ist auch die Schriftstellerin eine Botschafterin des Landes - und das ist sie gerne, schließlich hat ihr dieses Land das Leben gerettet.

Allerdings kam mit der Rettung auch eine neue Diskriminierung. Waren die Schrobsdorffs in Berlin die gehassten Juden, wurden sie in Bulgarien nach dem Krieg als Faschisten beschimpft. Als Schrobsdorffs Schwester Bettina einen bulgarischen Arzt heiratete und von ihm ein Kind bekam, verschleppten die bulgarischen Kommunisten sie in ein Arbeitslager. Angelika Schrobsdorff versteckte sich währenddessen bei einem englischen Offizier in Sofia, um diesem Schicksal zu entgehen. Berlin, Sofia, Jerusalem - die Geschichte der Angelika Schrobsdorff zeigt, dass der Mensch an vielen Orten einen Platz für sich finden kann. Bakalskis Film "Ausgerechnet Bulgarien" zeigt allerdings auch, dass jemandem, der gezwungen war, seinen Geburtsort zu verlassen, das ganze Leben lang irgendetwas fehlt.


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