Ungarn

Überleben im Transit

Budapester demonstrieren für ein Grundrecht auf Wohnung in der Verfassung Transparente flattern im Neonlicht am Budapester Westbahnhof. Obdachlose lagern auf Matratzen. Rastafaris trommeln, abgerissene Gestalten tanzen. Sie fordern "Ein Leben in Würde für alle". Aus den Metroschächten vor ihnen quellen Massen von Menschen hervor. Sie drängen vorbei zu den Treppen, hinaus in die Novembernacht. Sie blicken starr geradeaus und sind damit beschäftigt, Abstand zu wahren, auf ihre Taschen Acht zu geben. Am unscharfen Rand ihres Blickfelds liegen unter Wolldecken verhüllte Bündel. Hohle Hände ragen in die Luft, Hundeaugen betteln. Bloß weiter, weiter, fort von hier.Doch die lautstarke Kundgebung von fast hundert Obdachlosen, Aktivisten und Sozialarbeitern am Wochenende stört den Transit der Passanten. Ausstellungswände zwingen sie, den Blick zu heben. Schüchtern klammern sich Neugierige an die Bilder von Obdachlosen, gemalt von Straßenkindern für die vierte "Nacht der Solidarität" in Budapest. Begegnungen zwischen Jemandsland und Niemandsland sind plötzlich möglich. Eine Großmutter erkundigt sich besorgt: "Verzeihung, wissen Sie, warum der Mann dort so gekrümmt auf dem Boden liegt? Ist er krank?"


Demonstration aus Solidarität mit den Obdachlosen in Budapest
Dennis MaschmannBálint und Katalin, junge Aktivisten vom ungarischen Netzwerk "Der Mensch auf der Straße", halten eine Rede. Sie fordern den Staat und die Budapester Stadtverwaltung auf, finanzielle Kürzungen für soziale Einrichtungen zurückzunehmen. Sie fordern mehr sozialen Wohnraum in der Hauptstadt und mehr Mittel für Bildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen. Sie protestieren gegen den eine Woche alten Beschluss einer Budapester Bezirksverwaltung, Obdachlose ab 2008 mit Polizeigewalt von der Straße zu scheuchen. Sie fordern, das Grundrecht auf eine Wohnung in die Verfassung aufzunehmen. Pastor Gábor Iványi aus dem Obdachlosenheim "Zuflucht" mahnt: "Wohnungslosigkeit entsteht nicht durch einen Mangel an Mitteln, sondern vor allem durch einen Mangel an Respekt." Gulasch wird verteilt, gebrauchte Schuhe und Kleidung machen die Runde. Ein Fest für die Stadtstreicher, die sich im Herbst von den Inseln und Parks in die Unterwelt der Stadt verkriechen - an Orte relativer Wärme, wo es Essen gibt, wo Bekannte und Freunde sich treffen. Doch nicht nur Obdachlose sind am Wochenende in die Budapester Bahnhofsunterführung gekommen, auch Sozialministerin Mónika Lamperth taucht auf. Sie drängt sich in die Menge. "Mir wurde die Galle entfernt, weil ich trinke. Ich finde keine Arbeit. Bitte helfen Sie mir", bittet ein beinahe zahnloser Mann um die Dreißig. "Warum trinken Sie?" fragt ihn Lamperth. "Ohne Alkohol ist die Kälte nicht auszuhalten." Die Ministerin erklärt: "Sozialarbeiter können helfen, wenn Sie sich von dieser Art des Erwärmens befreien möchten. Schreiben Sie mir Ihre Telefonnummer auf, wir werden weiterhelfen." Der Mann aber besitzt kein Telefon."Was haben Sie von den Obdachlosen gelernt, Frau Ministerin?" fragt eine Journalistin später. "Sie haben mir persönliche Geschichten erzählt, dass sie sich Verbesserungen wünschen. Sie wollen Hilfe, eine Wohnung, Arbeitsplätze. Doch sie sehen nicht, dass sie selbst etwas dafür tun müssen." Gut sei, dass es Organisationen wie das Rote Kreuz gebe, die den Menschen helfen. Die Gesellschaft müsse solidarisch sein, fordert Lamperth. Sie wolle sich um mehr Sozialwohnungen bemühen. Die Verfassung ändern will sie hingegen nicht. Das sei "eine komplizierte Frage", die diskutiert werden müsse.


Bálint und Kata vom Netzwerk "Der Mensch auf der Straße" sprechen zu den Demonstranten
Dennis MaschmannSeit 2006 hat die ungarische Regierung die die Haushaltsausgaben um über fünf Prozent  zurückgefahren, um der Staatsverschuldung Herr zu werden. Denn die Wirtschaft des Landes steckt in der Krise. Die Inflation ist hoch, besonders gering Qualifizierte finden häufig keine Arbeit. Das Budapester Stadtparlament beteiligt sich an dieser Sparpolitik: 2006 wurden allein die Ausgaben für soziale Einrichtungen um 1,8 Millionen Euro gekürzt, 2007 gar um 5,2 Millionen Euro.Verlierer dieser Politik sind all jene, die sich nicht selbst zu helfen wissen. Zwar zahlt der Staat sechs Monate lang Arbeitslosenhilfe, und danach eine etwas geringere Sozialhilfe. Doch die 80 bis 120 Euro Unterstützung pro Person reichen nicht aus, um auch nur ein Zimmer zu mieten. Viele Obdachlose erhielten bereits deshalb keine Unterstützung vom Staat, weil sie ihre Ausweispapiere in der ersten Not auf dem Schwarzmarkt für ein paar Euro verkauft hätten, erzählt Róbert Képe, Sozialarbeiter der Organisation "Humanitäre Bewegung". Nach den ersten zwei Jahren sinke die Chance rapide, einen Menschen von der Straße zurück ins sesshafte Leben zu holen: Die Menschen verlernen, den Arbeitsalltag zu meistern. Tausende Ungarn leben bereits seit 17 Jahren als Gelegenheitsjobber auf der Straße - seit dem Ende des sozialistischen Regimes, als Arbeiterwohnheime geschlossen wurden, in denen sie ohne eigene Wohnung schlafen konnten. Heute wird die Zahl der Wohnungslosen in Budapest auf 30.000 geschätzt. Die Mehrzahl von ihnen findet nicht einmal vorübergehend einen Schlafplatz in einer Obdachlosenunterkunft. Um sie zu beherbergen, müsste der Staat erheblich mehr Geld aufwenden, so Képe. Stattdessen drängen sich die Stadtstreicher auf Pappen und unter Wolldecken vor Einkaufszentren und in den Unterführungen der Metro. Am Westbahnhof wird es Nacht. Die Demo verstummt im Sirren der Neonröhren. Mit der Stille kriecht von den Straßen die Kälte herab. ENDE


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