Russland

Tschetscheniens vergessene Kinder

Verlorene Generation - vergessene Generation
Ein Fotoband über das Schicksal tschetschenischer Kinder
"Gnädig" ist wohl die treffendste Beschreibung. Das Mädchen Jakha wurde unter ihrem einstürzenden Haus begraben, ihre Mutter und Nachbarn zogen das Kind aus den Trümmern und fuhren es in ein Krankenhaus. Dort mussten Ärzte Jakhas Unterschenkel amputieren - bei örtlicher Betäubung, weil Narkotika fehlten. An all das erinnert sich Jakha heute nicht mehr. Nicht an das Artilleriefeuer russischer Flugzeuge, das über sie herabging, nicht daran, wie das Haus über ihr zusammenbrach und auch nicht an die Operation, als die Ärzte ihr Bein fortnahmen. "Wie gnädig die Psyche eines Menschen sein kann und ihn vergessen lässt, was unerträglich ist", schreibt Andrea Jeska in ihrem neuen Buch "Tschetscheniens vergessene Kinder".Die Journalistin und Autorin erzählt darin Geschichten wie die von Jakha: von jungen Menschen, die den Krieg mit all seinem Gräuel erleben mussten, von einer Generation, die mit dem Krieg aufgewachsen ist. In Tschetschenien sind die Kämpfe seit Jahren vorüber. Es gibt keine Bomben mehr, keine Panzer, keine brennenden Häuser. Doch es gibt noch immer Minen, auf die Kinder beim Spielen treten. Tuberkulose und Polio und zu wenig Geld für Prothesen. Aus Jakha ist in den vergangenen sieben Jahren ein Teenager geworden, "mit Pickeln im Gesicht und trotzigem Mundwerk". Wenn es nach der Jugendlichen ginge, "könnte die Zeit der Behütung vorbei sein, könnte sie in die Welt entlassen werden", schreibt Jeska. "Aber welche Welt?"


Kinder in Tschetschenien
Musa Sadulajew

Die Tschetschenien-erfahrene Autorin hat mit dem Fotografen Musa Sadulajew eine Vielzahl an Schicksalen zusammengetragen. In ihrem Buch erzählt sie mit viel Emotion von Qualen und Tod, aber auch von der Suche nach Frieden und von Hoffnung. Jeska verleiht den Kindern eine Stimme. Sie erzählt von Petimat, dem vierjährigen Mädchen mit dem schwachen Herzen, deren Familie in einer Wellblechhütte lebt. Sie schildert die Arbeit der Kinderärztin Aisa Sagajewa, die bei Angriffen auf ihr Krankenhaus in Grosny Kindern wegen mangelnder medizinischer Ausstattung beim Sterben zusehen musste, denen sie in Friedenszeiten hätte helfen können. Sie schreibt über Awalu Ajdamirow, den Schuldirektor, der sagt, Tschetschenien könne man wieder heilen, wenn man Wissen in die Köpfe pflanze. Und einmal findet Jeska "die Hoffnung für eine fröhliche Zukunft", nach der sie sucht.Jeska beschreibt die Geschichten einer "verlorenen Generation". Denn Seelen könne man nicht einfach so heilen, wie man Steine beim Wiederaufbau aufeinander setzt, so die Journalistin. "Häuser kann man wieder aufbauen. Menschen nicht. Und Kindheiten, die genommen wurden, kann man nicht nachholen." Jeska ist in ihrem Buch keine neutrale Berichterstatterin auf Distanz zum Geschehen - sie ist mittendrin. Sie erzählt dem Leser, wie sie sich erschrickt, wie sie erstarrt und entsetzt ist. Sie lässt den Leser an ihren Gedanken teilhaben und nutzt dies auch für Kritik: Sie beschreibt, wie aus einer "verlorenen Generation" tschetschenischer Kinder eine "vergessene Generation" wurde, weil die Weltöffentlichkeit den beiden Kriegen im Kaukasus nur wenig Beachtung schenkte. Sie bemängelt, dass der Westen leichtfertig den Worten des russischen Präsidenten Wladimir Putin Glauben schenkte, als der den Krieg als Anti-Terrorkampf rechtfertigte. Und sie kritisiert, "wie weit der Einfluss der russischen Propaganda reicht".Die Texte des Buches sind in Deutsch, Englisch und Russisch verfasst, "in der Hoffnung, dem internationalen Diskurs über Friedenspolitik und Terrorismusbekämpfung einen neuen Impuls zu geben". Ergänzt werden die Berichte von 100 eindrucksvollen Aufnahmen des Fotografen Musa Sadulajew. Seine Bilder zeigen Zerstörung und Wiederaufbau. Sie zeigen Mädchen und Jungen mit Prothesen und Beinstummeln. Sadulajew hat Kinder fotografiert, die auf einer Bombe sitzen, die mit Mörsergranaten und Gewehrläufen spielen. Er zeigt aber auch lachende Kinder, tanzende, Fußball spielende und Kinder, die im Wasser plantschen. "Eine beinahe zaghafte Spurensuche" nennt der ARD-Journalist und Russlandexperte Thomas Roth die Fotos im Vorwort des Buches. "Sie sind ein Versuch, jene 'Trauer in den Augen' festzuhalten, wie es ein russischer Kollege ausgedrückt hat, und diese Trauer zum Teil dennoch mit einem Seitenblick manchmal fast als Hoffnung zu erzählen."Sudajew hat dabei seine Landsleute abgelichtet. Als Fotograf dokumentierte er die Schrecken zweier Kriege in seiner Heimat Tschetschenien, seine Fotos erscheinen in Tageszeitungen auf der ganzen Welt. "In meinem Buch zeige ich nicht die Freude der Kinder, sondern ihre Not", schreibt Sadulajew im Epilog. "Ich habe mit meiner Kamera die Ereignisse fixiert und die Augenblicke der harten Realität festgehalten, damit unsere Nachkommen ihre Schlüsse ziehen und sich vor Wiederholungen solcher Schrecken schützen können."Andrea Jeska und Musa Sadulajew: "Tschetscheniens vergessene Kinder", Brendow Verlag, 19,95 Euro.ENDE


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