Eine Brücke, zwei Welten, keine Lösung
Die "Mitrovica Bridge", wie sie schlicht im UN-Jargon heißt, ist nicht einmal 100 Meter lang. Wenn in den nächsten Wochen die Entscheidung über die Zukunft der bislang zu Serbien gehörenden Provinz fällt, werden sie von New York, Moskau, Paris oder Berlin aus auf diese Brücke von Mitrovica starren. Hier an den Ufern des Flusses Ibar, wo sich Serben und Kosovo-Albaner in großer Zahl gegenüberstehen, wird zuerst abzulesen sein, ob das Kosovo Frieden finden kann oder ein neuer Waffengang bevorsteht. Ein Krieg hätte weit reichende Konsequenzen. Für den Balkan, für Europa und für andere Nationalitätenkonflikte.
Es gibt wenige Brücken auf der Welt, zu denen eine Gebrauchsanweisung mitgeliefert wird: "Böswilliges oder provokatives Verhalten wird augenblicklich unterbunden", steht da in drei Sprachen. Und: "Der Besitz eines Ausweises ist obligatorisch. Versammlungen sind verboten." Auf der Tafel am Nordufer ist die Reihenfolge: Englisch-Serbisch-Albanisch. Im Süden: Englisch-Albanisch-Serbisch.
Rund 20.000 Serben haben sich nach den Wirren des vergangenen Jahrzehnts über den Fluss Ibar ins Hügelland des nördlichen Kosovo zurückgezogen. Bei Mitrovica windet sich ein Tal aus den Bergen und öffnet sich hin zum Amselfeld. Die Stadt ist die größte verbliebene serbische Siedlung im Kosovo. 13.000 Serben leben am Nordufer. Ihnen stehen etwa 60.000 Albaner am Südufer und zwei Millionen im ganzen mittleren und südlichen Kosovo gegenüber. Dazwischen liegen die Brücke, der Hass und die Angst.
Während es im Südteil der einst multikulturellen Stadt keine Serben mehr gibt, leben die wenigen Albaner im Nordteil abgeschottet von ihren serbischen Nachbarn. Mühsam werden sie mit einem bewachten Bus zum Einkaufen in den Süden geschleust. Sogar eine eigene Fußgängerbrücke über den Ibar wurde von ein paar Wohnblocks am Ufer aus angelegt, weil es den Bewohnern nicht zuzumuten war, wenige hundert Meter durch serbisches Gebiet zur Hauptbrücke zu laufen.
Suads knallrote Grillstube steht direkt am südlichen Brückenkopf. Es ist die vermutlich bestbewachte Imbissbude der Welt. Die Absicherung haben Nato, Uno und der einheimische "Kosovo Police Service" unter sich aufgeteilt. Zwei Mitglieder der Kosovo Police stehen an der Imbiss-Bude rund um die Uhr Wache, um jedes Auto, das über die Brücke fährt, zu kontrollieren.
Unterstützt werden sie von Einheiten der UN-Mission UNMIK. Diese stammen aus allen Ländern, die gerade willig sind, Polizeikräfte abzustellen. Finnen patrouillieren hier mit Indern, Jordanier mit Ghanaern. Längst nicht jeder versteht Englisch. Auf der anderen Straßenseite befindet sich im ehemaligen Kulturzentrum der Stadt eine Militärbasis der KFOR-Truppen, die von der Nato angeführt wird. Auf dem Dach kauert hinter Sandsäcken ein Scharfschütze, der die gesamte Brücke im Blick hat. Am Straßenrand stehen hunderte Meter Absperrgitter bereit. Uferböschung und Teile des Brückengeländers sind wild in Nato-Stacheldraht verwickelt.
Einst lebten in Titova Mitrovica, wie die Stadt bis 1989 hieß, Serben, Albaner und Roma Tür an Tür. Die meisten Familienväter fanden in den nahegelegenen Minen von Trepca Arbeit. 23.000 Arbeiter schürften hier einmal Gold, Silber, Kupfer, Blei. Zu fördern gäbe es immer noch etwas, doch der Konflikt hat fast alle den Job und die Zukunft gekostet. Auf 60 Prozent wird die Arbeitslosenrate in der Stadt geschätzt. Internationale Investoren lassen sich nicht blicken, so lange der Status des Kosovo ungeklärt ist.
Mit Laufkundschaft kann Suad für seinen Imbiss kaum rechnen. Die Einheimischen trauen sich nicht, die Brücke zu überqueren. Sudad und sein Vater leben wie so viele von der internationalen Schutztruppe. Immer wieder halten weiße Jeeps mit UN-Abzeichen am Brückenkopf. Biftek - Hackbraten im Brötchen - gibt es für 1,50 Euro. Gegrillte Hähnchenbrust schon für einen Euro. Die kurze Speisekarte hängt nur auf Englisch und Französisch aus.
Suad selbst kann sich auf Türkisch, Englisch, Serbisch, Albanisch, Französisch und Polnisch verständigen. Es geht entspannt zu. Wenn sie frieren, lässt der junge Mann die Männer in den schusssicheren Westen in seine Grillstube. "Ich bin Bosnier", erklärt Suad, dessen Familie seit Generationen in Mitrovica lebt. Weder mit den Albanern, noch mit den Serben komme er gut aus. Sein Geschäft stünde quasi auf neutralem Gelände. "Wenn ich könnte, würde ich den Imbiss sofort verkaufen und nach Bosnien oder Montenegro gehen", erzählt der 26-Jährige. Derzeit sei es ruhig. "Aber wer weiß schon, was die Statusverhandlungen bringen?"
Es ist die sprichwörtliche Wahl zwischen Pest und Cholera. Bekommen die Kosovo-Albaner ihre ersehnte Unabhängigkeit, werden auch andere Ansprüche anmelden: Serben in Bosnien-Herzegowina, Albaner in Mazedonien, Kurden in der Türkei und im Irak, Abchasen in Georgien, Russen in der Republik Moldau, Basken in Spanien, vielleicht sogar Ungarn in Rumänien und der Slowakei. Bleibt das Kosovo weiterhin ein Teil Serbiens oder wird zumindest der Nordteil an Serbien angeschlossen, werden sich zwei Millionen Kosovo-Albaner betrogen fühlen.
Sollte in der letzten, bis zum 10. Dezember laufenden Verhandlungsrunde, keine einvernehmliche Lösung mit Serbien, Russland und der EU erzielt werden, wollen sich die Kosovo-Albaner umgehend für unabhängig erklären und die USA werden diese Unabhängigkeit anerkennen. Auch die Bundesregierung erwägt diesen Schritt, wie der Deutschlandfunk kürzlich "hinter vorgehaltener Hand" erfahren haben will. Das heißt im Klartext: Spätestens zum 31. Dezember 2007 wird der heißeste der vielen so mühsam eingefrorenen Balkan-Konflikte aufgetaut.
Die Chancen, dass die Brücke von Mitrovica und die Welt ungeschoren davonkommen, stehen nicht übermäßig gut. Einen Vorgeschmack gab es am 17. März 2004. Albanische Jugendliche, des Wartens müde, stürmten damals über die Brücke und griffen die serbische Seite an. Elf Albaner und acht Serben wurden bei den Kämpfen getötet, es gab 900 Verletzte. Die größten Hoffnungen auf Frieden knüpfen sich noch an den Ahtisaari-Plan. Er sieht eine von der EU kontrollierte Unabhängigkeit des Kosovo vor, bei der die Serben mit einer greifbaren EU-Beitrittsperspektive abgefunden werden. Doch ob die erweiterungsmüde EU dafür überhaupt reif ist?
Nur einen Steinwurf entfernt von der Brücke betreibt Dragana auf serbischer Seite einen kleinen Lebensmittelladen. Ein Einschussloch im Schaufenster erinnert bis heute an die Unruhen von 2004. "Ich habe ein gutes Herz. Die Serben haben ein gutes Herz", beteuert die 39-Jährige. Aber Probleme mit den Albanern hätte es eigentlich immer gegeben. "Stellen Sie sich vor, ich gebe Ihnen die Hand, ich begrüße sie. Und ein paar Jahrhunderte später wollen ihre Nachfahren einem das Land wegnehmen."
Das Amselfeld, so die Doktrin Belgrads, ist die Wiege des serbischen Volkes, die man nicht preisgeben könne. Dort stehen Jahrhunderte alte serbisch-orthodoxen Klöster, die - falls sie nicht bei den Unruhen 2004 durch Albaner zerstört wurden - nun wie belagerte Burgen von der internationalen Schutztruppe gesichert werden müssen. "Hier ist Serbien. Ich bleibe hier", betont Dragana kämpferisch. Zugleich sei sie unendlich müde. Nicht müde vom Arbeiten. Müde von der ganzen Situation.
Titos blockfreies Jugoslawien erscheint nicht nur ihr im Rückblick wie eine Insel der Seligen. Mit Slobodan Milosevics Alptraum von Groß-Serbien kamen Ende der 80er Jahre die überwunden geglaubten Ideologien wie Schmeißfliegen zurück. Milosevic nahm dem Kosovo die Autonomie, versuchte die Albaner mit einem Apartheidsystem zu bändigen, das ihnen den Zugang zu höherer Bildung raubte, und setzte 1999 schließlich auf "ethnische Säuberungen", die erst durch Nato-Bomben gestoppt wurden.
Die Probleme haben Milosevic überlebt. Noch immer wird hier in Mitrovica das Serbentum gegen das Albanertum, das Christentum gegen den Islam und das Slawentum gegen den amerikanisierten Westen verteidigt. Schutzheiliger der Serben ist Russlands Präsident Wladimir Putin. In zahlreichen Geschäften in Serbisch-Mitrovica hängt sein finster dreinblickendes Porträt im Schaufenster. Die Albaner revanchieren sich auf ihrer Seite mit dem Grafitto "Free Kosovo", dessen rot-weißer Schriftzug unverkennbar das Coca-Cola-Logo imitiert. Nicht minder finster wie Putin blicken die uniformierten drei Brüder Milic drein. Serbische Freiheitshelden, derer zwischen Draganas Geschäft und der Brücke gedacht wird.
Die Albaner erwidern dies mit zwei bronzenen Denkmälern von gefallenen Helden der Befreiungsarmee UCK - eine Handgranate, die Kalaschnikow oder den Colt einsatzbereit im Halfter. Es ist wie Schreien gegen Gebirgswände. Das Echo folgt prompt und hart.
Ein weißes Kreuz thront auf einer Bergkuppe hoch über Nord-Mitrovica, als gelte es ein Zeichen gegen den Antichrist zu setzen. Passend dazu leuchtet auf einem Hügel am Stadtrand eine frisch errichtete serbisch-orthodoxe Kirche in der Sonne. Ein schöner Bau aus weißem Muschelkalk mit roten Backsteinstreifen, dem Heiligen Dmitrij geweiht. Schon im 16. Jahrhundert habe es hier einmal eine Kirche gleichen Namens gegeben, erzählt der dünnbärtige Priester in einer Zigarettenpause.
An diesem Sonntag hat er zwei Hochzeiten und die Taufe der kleinen Stasia zu besorgen. Ihr zu Ehren spielt eine Roma-Kapelle vor der Kirche auf. Für einen Moment ist es ein friedliches Bild. Doch wo Religion Herrschaftsansprüche zementieren soll, unterliegt jede Taufe, jede Hochzeit unweigerlich dem Verdacht, ein politisches Statement zu sein. Man muss sich nur drehen und kann die ganze Ebene von Süd-Mitrovica überblicken.
Der serbische Kirchenneubau ist als Ausrufungszeichen gedacht: Wir weichen nicht! Vom Süden her hallt von einem halbem Dutzend Moscheen das Rufen der Muezzine als Echo zurück.Das Geld für die Moscheen soll aus Saudi-Arabien kommen.
Aferdita Syla erzählt das und wundert sich, was aus ihrer Heimatstadt geworden ist. "Verschleierte Frauen gab es hier früher gar nicht. Jetzt sind hier viele muslimische und christliche Organisationen hergekommen. Wenn man keine Perspektive hat, nimmt man alles, was man kriegen kann." Die Albanerin ist Chefredakteurin des M-Magazins, finanziert von ausländischen Hilfsorganisationen. Die Redaktion besteht aus je drei Serben und drei Albanern. Aufgabe des M-Magazins sei es, Informationen über die jeweils andere Seite zu verbreiten. "Wenn die Serben keinen Strom haben heißt es, die Albaner haben mehr Strom. Wir zeigen, dass es die Probleme auf beiden Seiten gibt", erzählt Aferdita.
Anfangs hätte es geheißen: "Ich arbeite mit Serben, ich bin ein Spion." Inzwischen aber werde das Magazin als neutrale Informationsquelle geschätzt. Ohne das Heft wüsste niemand, was auf der anderen Seite der Brücke los ist."Das Leben ist zu kurz, um für ein bisschen Land zu sterben", sagt die blonde Frau mit der randlosen Brille und wiegt nachdenklich den Kopf. "Wenn man eine gute Zukunft hat, ist es egal, ob man Serbe oder Albaner ist. So wie es jetzt ist, haben die Leute gar nichts mehr zu verlieren." Als Chefredakteurin würde sie in die Rolle des neutralen Beobachters schlüpfen.
Wer jedoch nach ihrer Privatmeinung fragt, hört wenig Gutes über die Serben. 1995 ist Afterdita nach Deutschland geflohen, mit Hilfe teuer bezahlter Schlepper über Ungarn, die Slowakei und Tschechien. Nachdem die Serben ihren Vater in der Mine Trepca entlassen hatten, sei es darum gegangen, zusammen mit dem Bruder von Deutschland aus die neunköpfige Familie zu ernähren. Im Jahr 2000 kehrte sie zurück, um ihr Land wieder aufzubauen. "Unabhängigkeit", das ist auch für sie das einzige Ziel.
Die Redaktionsräume des M-Magazins befinden sich auf albanischer Seite der Brücke von Mitrovica im Schatten der KFOR-Basis. Bis hierhin, in die so genannte Confidence Zone, wagen sich die serbischen Redakteure gerade noch.
Aferdita würde umgekehrt die serbische Seite nie ohne Schutz betreten, obwohl ihre Familie früher selbst im Nordteil, kaum 200 Meter entfernt von der Brücke lebte. Zwei Jahre M-Magazin, zwei Jahre journalistischer Brückenbau haben die Ängste nicht verringern können. "Ich kann da nicht hingehen. Nur weil Du Albaner bist, schlagen sie Dich."Die Erinnerungen, die Narben. Das Ganze scheint kaum mehr überbrückbar. Die internationalen Helfer wollen es, dürfen es nicht wahrhaben. Sie klammern sich an den Traum vom multikulturellen Kosovo, fördern finanziell den Wiederaufbau serbischer Siedlungen in mehrheitlich albanisches Gebiet und umgekehrt. Donquichotterien. Sisyphusiaden. Hier, wo nur ein Prozent Hass ausreichen, um 100 Prozent Zerstörung zu erzielen.
"Peace, Love and Happiness and a Smile", hat ein chinesischer UN-Mitarbeiter im Gästebuch einer albanischen Pizzeria hinterlassen - nett gemeint, aber irgendwie hilflos. In der gleichen Pizzeria wird der abgebrochene Flügel einer amerikanischen Tomahawk-Rakete, die hier unweit auf eine serbische Stellung niederging, wie eine Reliquie aufbewahrt. Sollte nicht endlich auseinandergehen, was auseinandergehört?
Längst sind Fakten geschaffen. Am Südufer des Ibar beginnt ein anderes Land mit einer anderen Sprache, anderer Währung, anderer Kultur. Kein Serbisch ist mehr zu hören, statt mit dem Dinar wird mit Euro bezahlt, kein Auto mit serbischem Nummernschild mehr. Serben und Albanern gemeinsam bleibt, dass sie ihre Toten im Din-A4-Format an Laternenpfählen öffentlich betrauern. Serbische Plakate tragen einen schwarzen Rand und Kreuze. Albanische Aushänge haben grüne Ränder, bisweilen ist ein Halbmond zu sehen. Noch sind die Toten, die da beweint werden, mehrheitlich im Rentenalter.
Bei Einbruch der Dämmerung hallt ein letztes Mal das Rufen der Muezzine vielstimmig durch die Straßen. Anders als im serbischen Teil sind diese voller junger Leute. Gierig nach Leben, aber ohne Ziel. Für Kneipen, Cafés, Diskotheken ist kein Geld da. Es bleibt nicht viel mehr, als von der Zukunft zu träumen und irgendwie die Ungeduld im Griff zu halten. Endlich Unabhängigkeit für das ganze Kosovo. Aber was heißt das dann für die Serben am Nordufer? "Selbst wenn für das Kosovo eine Lösung gefunden wird, ist es noch keine Lösung für Mitrovica", stellte die journalistische Brückenbauerin Aferdita beinahe resigniert fest.Eine KFOR-Patrouille sieht von einer Kreuzung aus dem nächtlichen Treiben zu. "Derzeit sei alles ruhig", erklärt ein belgischer Gefreiter unter seinem tarnfarbenen Schlapphut hervor. Aber wenn es losginge und sie seien in Belgien, dann sei es eben zu spät. "Deshalb sind wir hier." Für immer?
Die Nachtwache am Brückenkopf muss inzwischen ohne Suad und seine Bifteki auskommen. Gegen 21 Uhr hat dieser seine Imbissbude nach einem Zwölf-Stunden-Tag zugesperrt. An der Außenwand brennt noch eine Lampe, in deren fahlem Licht sich der Polizeiposten die Beine vertritt. Die Eisenflügel der Brücke von Mitrovica sind blau angestrahlt. EU-blau oder UN-blau? Ganz egal. Das kühle Blau soll irgendwie beruhigend wirken.