Die strafende Hand des Staates
Das russische Gesetz erlaubt Todesurteile - das Volk fordert sie für MörderIn Russland wird wieder verstärkt über die Todesstrafe diskutiert. Anlass sind die Gerichtsurteile der vergangenen Woche gegen den als Schachbrett-Mörder von Moskau bekannt gewordenen Alexander Pitschuschkin. Der 33-Jährige hatte auf grausame Weise mindestens 49 Menschen getötet, die er in einen Park lockte, um mit ihm auf seinen toten Hund anzustoßen. Während die Geschworenen Pitschuschkin zu lebenslanger Haft verurteilten, fordern Stimmen in der Bevölkerung seinen Tod. Russland ist eines der weltweit 28 Länder, deren Gesetz die Todesstrafe nach wie vor erlaubt, auch wenn sie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr vollstreckt wurde.Mit seinem Beitritt zum Europarat hatte sich die russische Regierung 1996 verpflichtet, innerhalb von drei Jahren die Europäische Menschenrechtskonvention zu ratifizieren. Sie verbietet unter anderem die Todesstrafe. Die Dreijahres-Frist lief am 5. Mai 1999 ab - das entsprechende Protokoll jedoch ist bis heute nicht ratifiziert. 2006 betonte der russische Außenminister Sergej Lawrow, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Moskau sein Versprechen in die Tat umsetze. Getan hat sich seither nichts. Und so bleibt Russland das einzige der 47 Mitglieder im Europarat, das das Dokument weder ratifiziert noch in Kraft gesetzt hat.Das russische Verfassungsgericht hat die Todesstrafe im Februar 1999 lediglich solange verboten, bis in allen 89 Regionen des Landes Geschworenengerichte eingesetzt sind. Inzwischen fehlt ein solches Gericht nur noch in einer einzigen Region: in Tschetschenien. Spätestens in drei Jahren soll jedoch auch hier ein solches eingerichtet sein. Die Todesstrafe könnte in Russland de facto also ab 2010 wieder eingeführt werden.Dies ist zwar angesichts der allgemeinen politischen Lage eher unwahrscheinlich. Doch es gibt genügend Politiker, die die Wiedereinführung der Todesstrafe immer wieder fordern. Der stellvertretende Generalstaatsanwalt Wladimir Kolesnikow zum Beispiel sagte der Nachrichtenagentur RIA Nowosti: "Sobald in Tschetschenien ein Geschworenengericht eingeführt ist, greifen wir das Thema Todesstrafe wieder auf". Für deren Wiedereinführung plädierte auch der Vize-Sprecher der russischen Staatsduma, Dmitri Rogosin: "Ich persönlich bin für die Todesstrafe, wenn jemand Drogen herstellt oder verkauft oder mit dem Terrorismus zu tun hat."Bei diesen Forderungen können sich die russischen Politiker auf einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung berufen. Einer Umfrage des Instituts "Stiftung Öffentliche Meinung" zufolge hätten gegenwärtig drei Viertel der russischen Bevölkerung nichts gegen eine Wiedereinführung der Todesstrafe. Nur 25 Prozent aller Russen sind für ihre völlige Abschaffung.Präsident Wladimir Putin selbst scheint dabei zwischen diesen Stimmen aus der Bevölkerung und seinen Verpflichtungen gegenüber dem Europarat zu lavieren. Nach dem blutigen Geiseldrama in Beslan im September 2004 hatte er bekanntlich die Wiedereinführung der Todesstrafe für Terroristen erwogen. Bei einem Besuch in Spanien betonte er 2006, dass auch "in vielen Länder, denen es niemand absprechen kann, zivilisiert und demokratisch zu sein, die Todesstrafe vollstreckt wird". Er spielte damit auf Japan und die USA an. In diesem Jahr gab der russische Präsident allerdings gegenüber der Nachrichtenagentur Itar-Tass zu Protokoll, er sei "persönlich gegen die Todesstrafe". Schließlich solle jede Strafe zwei Funktionen erfüllen: Vergeltung und Besserung. Bei der Todesstrafe gäbe es jedoch keine Chance auf Besserung, sie übe nur Vergeltung. Außerdem, so Putin, komme es gelegentlich zu Fehlern in Justiz und Gerichtspraxis. "Ich werde jedoch die Meinung der Parlamentarier und die Stimmung in der Bevölkerung in dieser Hinsicht berücksichtigen", sagte der Präsident.Dabei gibt es in Russland durchaus ein historisches Beispiel für das Verbot der Todesstrafe, und zwar bereits während der Zarenherrschaft vor über 250 Jahren. Kaiserin Elisabeth von Russland gelobte bei ihrer Krönung 1741, niemals die Todesstrafe vollstrecken zu lassen. In den 20 Jahren ihrer Regierungszeit war diese dadurch praktisch abgeschafft.Die letzte legale Hinrichtung wurde in Russland noch 1994 vollzogen. Verurteilt war der ukrainische Massenmöder Andrej Tschikatilo, in dessen Fußstapfen Schachbrettmörder Pitschuschkin treten wollte. Tschikatilo hatte von 1978 bis 1990 zwölf Jahre lang im Gebiet Rostow gemordet. Seine Opfer waren vor allem Kinder und Jugendliche, die er oft auch sexuell missbrauchte. Mehrere Male wurde der Straftäter gefasst, jedes Mal aber wieder frei gelassen. Erst 1990 entdeckten die Behörden eine seltene körperliche Anomalie Tschikatilos, die sie zuvor verwirrt hatte: Blut und Sperma des Täters gehörten zu verschiedenen Blutgruppen, an seinen Opfern hatte er stets nur Sperma-Spuren hinterlassen. Die Staatsanwaltschaft legte Tschikatilo schließlich Mord in 53 Fällen zur Last, er selbst nannte höhere Zahlen. Im Oktober 1992 wurde Tschikatilo zum Tode verurteilt und am 16. Februar 1994 durch einen Genickschuss getötet.Große Teile der russischen Bevölkerung hielten dies seinerzeit für eine mehr als gerechte Strafe. Dabei vergaßen sie geflissentlich, dass für den ersten Mord Tschikatilos ein Unschuldiger starb: Der vorbestrafte Alexander Krawtschenko wurde 1978 verhaftet, zum Tode verurteilt und am 5. Juli 1983 im Alter von 29 Jahren erschossen.Doch auch die Alternative zur Todesstrafe, die lebenslange Haft, ist in Russland alles andere als human. Der stellvertretende Leiter der russischen Justizvollzugsbehörde, Oleg Filimonow, gab sogar offiziell zu, dass "die Haftbedingungen für Gefangene, die zu lebenslanger Haft verurteilt sind, nirgendwo so schwer sind wie in Russland". Waren es 1997 noch knapp 180 Menschen, die eine lebenslange Haftstrafe absitzen mussten, sind es inzwischen mehr als 1100. "In unserem Vollzugssystem bedeutet lebenslange Haft eine lange und qualvolle Folter", sagte der bekannte Moskauer Anwalt Igor Trunow. Exemplarisch ist der Fall des tschetschenischen Kriegsfürsten Salman Raduev, der vor fünf Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Die Bedingungen im Gefängnis hielt er nur drei Monate lang aus und starb am 14. Dezember 2002 unter ungeklärten Umständen.ENDE