Verhärtete Fronten
Hunderttausende Ungarn protestieren am Jahrestag des Aufstandes gegen die Regierung Budapest (n-ost) - Eine seltsame Bilanz der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Ungarn-Aufstandes 1956 zog gestern der ungarische Regierungssprecher Zoltán Gál: Es sei zu keinen Zwischenfällen gekommen, kommentierte Gál. Verletzte seien nicht zu beklagen, ebenso wenig sei die Feuerwehr ausgerückt. Zwar blieben zum 51. Jahrestag des Aufstandes am 23. Oktober den Budapestern bürgerkriegsähnliche Zustände wie noch vor einem Jahr erspart. Aber allein nach ersten Krawallen am Montagabend wurden 20 Verletzte registriert.Wie schon vor einem Jahr mobilisierte allein die konservative Oppositionspartei Fidesz bei einem Demonstrationszug durch die Budapester Innenstadt am Dienstag rund 250.000 Menschen. Andere Veranstaltungen wie die der rechtsradikalen Nationalen Wache oder der Partei Leben und Recht (MIÉP) zählten ebenfalls mehrere tausend Teilnehmer. Die Proteste anlässlich eines Tages, der eigentlich an den heldenhaften Kampf der Ungarn gegen die Sowjetokkupation 1956 erinnern sollte, offenbaren die tiefe Spaltung des Landes. Der sozialistische Premier Ferenc Gyurcsány hatte kurz nach den Parlamentswahlen im Frühjahr 2006 eingeräumt, die Wähler damals über die Finanzlage des Landes belogen zu haben und eine Serie von harten Einschnitten ins soziale Netz gestartet. Seitdem schlagen in Ungarn die Emotionen hoch.
Schon vor einem Jahr forderte das Volk den Rücktritt von Premier Ferenc Gyurcsány
Thorsten Herdickerhoff
Am Dienstagabend setzte die Polizei Tränengas ein, als einige Dutzend Demonstranten sich einer Absperrung vor dem Budapester Parlament näherten. Auch in diesem Jahr flogen wieder Molotow-Cocktails und Steine gegen die Wasserwerfer der Sicherheitskräfte. Als die Polizei den Anführer der radikalen Gruppe "64 Komitat", László Toroczkai, festnahm, warfen empörte Demonstranten in der Nähe des Opernhauses Autos um. Toroczkai hatte sich trotz Polizeiverbots Richtung Staatsoper begeben, wo Gyurcsány und Präsident László Sólyom den offiziellen Feierlichkeiten bewohnten. Er habe, ließ Toroczkai über Lautsprecher verkünden, keine Verbotsmitteilung von der Polizei erhalten.Premier Gyurcsány verkündete unterdessen in seiner Festrede, Ungarn sei nicht durch einige Hundert Rechtsradikale gefährdet, sondern durch die, die politische Selbstbestimmung durch eine starke Führung von oben ersetzen wollten. Präsident Sólyom kritisierte in seiner Rede allerdings staatliche Stellen. Bis heute sei keiner der Verantwortlichen für die blutigen Zusammenstöße im vergangenen Jahr bestraft worden, obwohl konkrete Untersuchungsergebnisse vorlägen. Es verletze demokratische Prinzipien, so der Staatschef, wenn verantwortliche Polizisten einfach ausgewechselt, aber keinerlei Gerichtsverfahren unterzogen würden.Der ehemalige Polizeichef von Budapest, Péter Gergényi, zum Beispiel, arbeitet seit einigen Monaten als Sicherheitschef eines Unternehmers, der den regierenden Sozialisten nahe steht. Ihm wird - nicht nur von der Opposition, sondern auch von unabhängigen Juristen - vorgeworfen, die ihm unterstellten Polizisten hätten während der Krawalle im Oktober 2006 keine Identifizierungsnummern getragen und ihre Gesichter mit Masken vermummt. Auf den Videoaufnahmen der brutalen Zusammenstöße können sie deshalb nicht identifiziert werden.Anders als im Vorjahr setzte die Polizei bei den Protesten der vergangenen Tage keine Gummigeschosse ein. Bei Zusammenstößen im März hatten dadurch noch zwölf Demonstranten das Augenlicht verloren. Die Opposition kritisierte allerdings, dass die Polizei in diesem Jahr die private Sicherheitsfirma Inkal Security gegen die Demonstranten zu Hilfe geholt habe. Das Sicherheitspersonal hatte am Dienstag zunächst nicht einschreiten wollen, als eine gewaltbereite Gruppe Rechtsradikaler versuchte, sich unter den Protestzug der oppositionellen Fidesz-Partei zu mischen. Die Demonstranten brachte dies nur noch mehr gegen die Regierung auf.Fidesz-Chef Viktor Orbán mahnte daraufhin mehrmals, die Lösung der Krise sei keinesfalls mit Gewalt zu erreichen, sondern nur durch eine Volksabstimmung über die sozialen Reformen der gegenwärtigen Regierung. Genau dies hatte Fidesz bereits vor einem Jahr im Oktober angeregt. Die regierenden Sozialisten haben eine Diskussion über diese Frage seither jedoch immer wieder verschoben.ENDEOszkár Jankovich