Der Präsident hängt neben der Ikone
Auch 90 Jahre nach der Oktoberrevolution hat sich Russland nicht von der Vergangenheit gelöst
Mit einem donnernden Schuss aus der Bugkanone des Panzerkreuzers Aurora fing alles an: Vor genau 90 Jahren war er in der Nacht zum 25. Oktober 1917 (nach gregorianischem Kalender: 7. November) das Signal zum Sturm auf das Winterpalais. Aufständische Bolschewiken eroberten den ehemaligen Zarensitz, in dem damals die Provisorische Regierung tagte. Die Bolschewiken entmachteten das Kabinett und errichteten eine Sowjetherrschaft, die die nächsten sieben Jahrzehnte überdauern sollte. Das alles geschah so sang- und klanglos, dass die meisten Petrograder davon erst am nächsten Tag aus der Zeitung erfuhren. Mit der Kapitulation der Provisorischen Regierung und dem Sieg der Bolschewiken endete der erste zaghafte Versuch, Russland in eine Demokratie nach westlichem Muster zu verwandeln. Er wurde bis heute nie wieder ernsthaft aufgenommen.
Das Jahr 1917 hatte Russland gleich zwei Revolutionen gebracht. Im Februar bereits wurde Zar Nikolaus II. zum Abdanken gezwungen. Das russische Parlament, die Duma, bildete eine Regierung, die umgehend demokratische Rechte und Freiheiten gewährte. Nach der 300 Jahre währenden Herrschaft des Hauses Romanow erschien Russland plötzlich als ein freies Land. Alexander Kerenski, der letzte Ministerpräsident der Provisorischen Regierung, beschrieb den Zusammenbruch der Monarchie als Endpunkt eines langen und schwierigen Kampfes um die Emanzipation Russlands.
Tatsächlich kamen der kurzen Zeit der Freiheit zahlreiche Reformgesetze zustande. Die Presse, bislang dem Herrscher treu ergeben, erging sich in freimütigen Angriffen gegen die ehemalige Zarenfamilie. Trotz der Reformbemühungen blieben jedoch die dringenden Probleme des Landes ungelöst, vor allem die Friedens- und die Landfrage. Zudem befand sich Russland im Krieg mit Deutschland. Während die Kerenski-Regierung den Krieg gemeinsam mit den Alliierten bis zum Sieg fortführen wollte, traten Wladimir Iljitsch Lenin und die Bolschewiken für einen schnellen Friedensschluss ein, selbst wenn er hohe territoriale Verluste mit sich bringen sollte. Zwar stand Lenin mit dieser Forderung zunächst allein da, doch sein Einfluss auf die Arbeiter in den Sowjets von Petrograd und Moskau war groß genug, um den Putsch gegen die Regierung zu wagen. Einen Tag nach dem Kanonenschuss der Aurora ersetzte ein sowjetisches Regime den jungen russischen Parlamentarismus.
Überlebensgroße Leninstatue in einer Kaliningrader Werkstatt
Thoralf Plath
Nicht zuletzt wegen dieser kurzen, freiheitlichen Phase verbanden viele westliche Beobachter den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 mit der Hoffnung, das Land würde sich nun wieder in eine Demokratie wandeln. In Putins gelenkter Form der Volksherrschaft wurden sie allerdings schnell eines Besseren belehrt. Ein großer Teil der Bevölkerung indes scheint mit der Politik des Kreml mehr als einverstanden zu sein.
Mit ihrem immer stärker werdenden Putin-Kult knüpfen die Russen nahtlos an alte historische Vorbilder an. Schon der Zar, Lenin und sogar Stalin wurden in Russland ikonengleich verehrt. Wenn Putin darum im Dezember als Kandidat der Kreml-Partei Einiges Russland antritt, wird allein die Frage spannend, wie solide die Partei der Macht über die Zwei-Drittel-Schwelle kommt. Manche Kommentatoren sehen Russland bereits wieder auf dem Weg zum Ein-Parteien-Staat. Oder wie Ex-Premier Viktor Tschernomyrdin einmal anmerkte: „Ganz gleich, welche Partei wir gründen, es wird eine KPdSU.“
Vollständig gleich verlaufen historische Vorgänge nie, doch oft ähneln sie sich zum Verwechseln. So lässt sich das Ende des Zarentums in Russland mit dem Ende der Sowjetunion vergleichen oder das Scheitern der Provisorischen Regierung unter Kerenski mit dem vorläufigen Scheitern der russischen Demokratie in den 90er Jahren. Historiker attestieren Transformationsstaaten deshalb schnell so etwas wie „Pfadabhängigkeit“. Demnach verfestigen sich in bestimmten Gesellschaften über lange Zeiträume hinweg eigene Spielregeln, die in Phasen geschichtlicher Umbrüche fortbestehen und den Verlauf der Ereignisse bestimmen. Da liegt die Vermutung nahe, die Stimme der Freiheit sei in Russland einfach zu schwach. Doch diese Vergleiche verwischen die Unterschiede und stützen eher Mythen als Wahrheiten. Denn ist es tatsächlich wahr, dass Russland immer unfrei, rückständig und ikonengläubig war? Führt Russlands Pfad wirklich immer zu starken Herrschern? Oder sind dies bloß wohl gepflegte Klischees?
Die russischen Bauern hatten schon 1917 beim Sturz des Zaren gerufen: „Es lebe die Republik! Nun lasst uns einen guten Zaren wählen!“ Und wer sich, wie der britische Historiker Orlando Figes meinte, „nach der Auflösung der dogmatisch gesicherten Sowjetwelt in einer Art Schockzustand wiederfand oder von der Meinungsfreiheit nach 1991 nur verwirrt wurde, sehnte sich nach dem Trost alter Gewissheiten wie dem Monarchismus oder auch stalinistischen Positionen.“ Diese Beispiele illustrieren Geschichte und lassen sie menschlich erscheinen. Zugleich bedienen sie immer wieder das stereotype Bild eines Landes und seiner Bevölkerung. Dabei sprechen die Fakten eine einfache Sprache: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion litten die Menschen in Russland unter großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Hinzu kam der Verlust von Status und Ansehen jedes Einzelnen wie auch der Nation als ganzer. In Russland hat dies peinliche Schamgefühle hervorgerufen – und das hätte es vermutlich auch in jedem anderen Land getan. Und dass Scham und Ehrverlust empfänglich machen für starke Führerfiguren, ist eine allgemeine Erkenntnis.
Was könnte also heute als Vorbild für den Demokratisierungsprozess in Russland dienen? Die Demokratie, die Kerenski einzuführen versuchte? Sie dauerte nur einen Sommer und ist im kollektiven Bewusstsein Russlands kaum verankert. Oder die Jelzin-Ära mit ihren liberalen Reformen? Wie die Februarrevolution brachten auch die Jelzin-Jahre eher Anarchie als Freiheit über Russland. In den 90er Jahren verarmte die Bevölkerung dramatisch, während nur einige wenige unvorstellbaren Reichtum anhäuften. Die Wirtschaftskrise von 1998 führte zum Staatsbankrott und eine Riege schwerreicher Oligarchen zwang den Kreml, Politik nach ihren Wünschen zu machen. Erneut durchlebte das russische Volk Demütigungen, die es demokratischen Reformen wenig gewogen machten. Genau in diesem Moment betrat Wladimir Putin die Bühne der Macht. Auf seine ganz eigene Weise verstand er es, das Selbstvertrauen der Nation wiederherzustellen.
Längst hat das Porträt Putins in russischen Wohnstuben einen festen Platz neben der Ikone. Da macht es für einen Großteil der Bevölkerung kaum einen Unterschied, ob er als Präsident oder als Ministerpräsident das Land regiert. Dass Putin im Volk zum weit verbreiteten Sinnbild nationaler Identität geworden ist, offenbart, dass es sonst nichts gibt, was imstande wäre, diese Identität so eindeutig zu spiegeln. In diesem Sinne kann man sich mit Russland freuen, denn wenigstens für den Moment scheint sich das Land selbst wiedergefunden zu haben.
ENDE
Verschneiter Lenin im russischen Sosnogorsk
Tino Künzel