Aufstand gegen die Regierung
Hunderttausende bulgarische Lehrer befinden sich seit einem Monat im Ausstand. Sie fordern eine Erhöhung ihrer Gehälter um 100 Prozent. Was wie ein normaler Arbeitskampf aussieht, ist inzwischen mehr: Es ist ein Aufstand gegen die etablierte Führung des Landes, gegen die allgegenwärtige Korruption und die Verantwortungslosigkeit einer Politikerkaste, die ihr Land schamlos ausbeutet."Kündigen! Kündigen! Kündigen!" - immer wieder erschallt dieser Ruf derzeit in den Straßen Bulgariens.
Seit Anfang Oktober streiken dort mehr als die Hälfte aller Lehrer für höhere Löhne. Ihre Forderungen sind vor allem an Finanzminster Plamen Orescharski und seinen Bildungsminister Vultshev adressiert. Die beiden hatten den Volkszorn angeheizt, als das Fernsehen ein heimlich mitgeschnittenes Gespräch zwischen den Politkern ausgestrahlt hatte, in denen sie den Lehrerprotest als "Sedjanka" bezeichnen - eine abwertende Bezeichung für ein Fest aus grauer Vorzeit, in der sich Jungen und Mädchen vom Dorf ein Stelldichein gaben. Zugleich stellte der Mitschnitt die Strategie der Politik bloß, das Problem auf die lange Bank zu schieben, offensichtlich in der Hoffnung, die Lehrer könnten sich angesichts ihrer niedrigen Löhne bald nicht einmal mehr das tägliche Brot leisten.
Vom Lehrerzimmer auf die Straße: Pädagogen fordern höhere Gehälter/ Jan Zappner, n-ost
Einen Monat nach Streikbeginn brachten die oppositionellen Parteien Anfang der Woche einen Misstrauensantrag gegen die Regierung Stanischew im Parlament ein. Der jedoch scheiterte, nachdem sich Premierminister Sergej Stanischew mit den beiden unter Druck stehenden Ministern solidarisiert hatte. Im Angebot seiner Regierung an die Streikenden dokumentiert sich für die Mehrheit der Bulgaren die gesamte Arroganz der Macht: Es bietet eine Erhöhung der Gehälter an, wenn die Gewerkschaften der Entlassung jedes vierten Lehrers zustimmen.
In der Wohnung von Greta Nikolova ist es kalt. Die Deutsch-Lehrerin wohnt am Rande der zentralbulgarischen Stadt Kazanlak in einem grauen Plattenbau. "Früher haben wir mit Strom geheizt", sagt die 47-Jjährige, "doch bei den heutigen Strompreisen geht das nicht mehr". Nun ziert ein kleiner blecherner Holzofen das Wohnzimmer. Daneben stehen zwei Betten, eine altersschwache Couch und ein Tisch. In einem zweiten, unbeheizbaren Zimmer schläft die kranke Schwiegermutter, in der Küche lösen sich allmählich die Tapeten von den Wänden. "Wir haben kein Geld für Reparaturen", klagt Nikolova. "Wir hatten viele Hoffnungen nach der Wende - nicht eine einzige hat sich erfüllt."
Hunderttausende Lehrer protestierten auf Sofias Straßen / Jan Zappner, n-ost
Greta Nikolova unterrichtet Deutsch am naturwissenschaftlichen Gymnasium der Stadt, einer Elite-Schule. Hier kann nur Abitur machen, wer die strengen Aufnahmeprüfungen nach der achten Klasse besteht. Verdienen Schweißer in Bulgarien bis zu 1200 Leva, Straßenbahnfahrer in Sofia 900 und Taxifahrer schon mal 800 Leva, erhält Greta nach 26 Jahren Lehrtätigkeit gerade einmal 370 Leva, rund 185 Euro. Zusammen mit dem Gehalt ihres Mannes kommt ihre Familie auf ein Einkommen von 740 Leva.
Wie kann man damit leben? Greta rechnet ihre monatlichen Ausgaben vor. Nach den Kosten für Miete, Strom, Wasser und Telefon sowie den Studiengebühren für die Tochter bleibt kaum mehr als ein kleines Taschengeld. "Und da sind die Kosten für die Ärzte und Medikamente für meine kranke Schwiegermutter noch nicht mit eingerechnet. Auch keine Kleidung oder Reparaturen, wenn mal etwas kaputt geht."Deshalb hat Greta Nikolova sofort "Ja" gesagt zum Streik.
Seit Schuljahresbeginn hält sie, gemeinsam mit den 30 anderen Lehrern, ihre Schule besetzt. Um acht Uhr versammeln sich alle im Lehrerzimmer mit seinem abgenutzen, altersschwarzen Parkett und verfolgen die Nachrichten. Jeden Tag hoffen sie, dass die Verhandlungen zu einem akzeptablen Ergebnis führen. "Doch stattdessen", empört sich Mathematik-Lehrer Christo Lessov, "drohen sie, 25 Prozent der Lehrer zu entlassen."
Unglaublich aber wahr. Zur gleichen Zeit, in der die bulgarischen Politiker behaupten, für die Forderungen der Lehrer sei kein Geld vorhanden, wollen sie für einen zweistelligen Millionenbetrag gebrauchte französische Kriegsschiffe kaufen. Für die Lehrer in Kazanlak macht dieses Beispiel einmal mehr deutlich, wie wenig sensibel, unfähig und verantwortungslos bulgarische Politiker selbst in heiklen Situationen handeln. Offensichtlich sind sie tatsächlich der Meinung, es handele sich bei diesem Streik um eine "Sedjanka" und nicht um einen Protest, der sich zu einer ernsthaften politischen Krise auswachsen könnte. Schon haben andere Gewerkschaften wie die der Transportarbeiter angekündigt, sich dem Streik der Lehrer anzuschließen.
Die Krise wirft längst ihre Schatten bis ins Lehrerzimmer in Kazanlak. Hier stoßen die Parolen der rechtsextremen Partei Ataka und der Populismus der neuen politischen Kraft GERB zunehmend auf Gehör. Beide Parteien dürften zusammen mit der Partei VMRO bei den bevorstehenden Kommunal-Wahlen das politische Gefüge des Landes kräftig durcheinander schütteln. Die VMRO träumt vom Zusammenschluss mit Mazedonien, Ataka schürt die Spannungen zwischen Bulgaren und den Minderheiten der Türken und Roma. Und GERB geriert sich als Kämpferin gegen die allgegenwärtige Korruption, allen voran ihr Führer Boiko Borrissov, einst Leiter der Abteilung für organisierte Kriminaliät im Innenministerium. Dass in seiner Amtszeit nicht ein führender Kopf des organisierten Verbrechens verhaftet und kein einziger Leva aus Mafiageschäften konfisziert wurde, vermag er bisher erfolgreich hinter seinem Charisma zu verstecken.
Die bulgarischen Lehrer fühlen sich für dumm verkauft / Jan Zappner, n-ost
Ungerührt von den politischen Querelen setzen die Lehrer unterdessen ihren Streik fort. Sie fordern die Anhebung ihrer Gehälter in drei Stufen zu je 25 Prozent. Mit den bereits erfolgten Anhebungen im vergangenen Jahr kämen sie damit auf eine Gehaltserhöhung von 100 Prozent. Experten zufolge wäre dies aber keine reale Erhöhung, sondern lediglich ein Ausgleich der in den letzten 15 Jahren stetig gesunkenen Kaufkraft angesichts explodierender Preise.
"Uns geht es nicht nur um das Gehalt", meint Physiklehrer Tedodossi Teodossiev. "Uns geht es auch um dringende Reformen im Bildungswesen. Es kann nicht angehen, dass ich als Lehrer im 21. Jahrhundert mit Anschauungsmaterialien aus der Zeit des Ersten Weltkrieges unterrichten muss und einige Schulen noch mit eisernen Öfen beheizt werden." Und Direktor Christo Bakalov fügt hinzu: "Wir haben jetzt das erste Mal seit elf Jahren Geld bekommen, um die Fenster auszuwechseln, damit wir im Winter bei erträglichen Temperaturen unterrichten können. Ach ja, und im letzten Jahr hat das Bildungsministerium sich neue Computer angeschafft und uns ein paar der alten als großzügige Spende überlassen."
Die Strategie vieler Politiker, die Lehrer zu diffamieren und für die zunehmende Jugendkriminalität verantwortlich zu machen, ist indes nicht aufgegangen. Als wollten sie das Gegenteil beweisen, solidarisieren sich immer mehr Schüler mit ihren Lehrern. In Kazanlak haben sie Geld gesammelt und tun, was eigentlich Aufgabe der Behörden wäre: Während ihre Lehrer streiken, renovieren sie die Klassenräume. "Ich bin absolut mit dem Streik meiner Lehrer einverstanden", sagt Elftklässler Kalojan Sotshev. " Es kann nicht angehen, dass Schüler, die nach dem Unterricht etwas dazu verdienen, mehr Geld bekommen als ihre Lehrer. Und wenn man das Verhalten mancher Politiker angesichts des Streiks beobachtet, möchte man meinen, sie hätten nie die richtigen Lehrer gehabt."