Russland

Raufbold und Draufgänger

In "Young Stalin" schildert Simon Sebag Montefiore Stalins wilde JugendMoskau (n-ost) - Um dem sowjetischen Diktator auf die Schliche zu kommen, hilft sich der britische Historiker Simon Sebag Montefiore mit Populär-Psychologie. Er zeichnet das Bild eines auf die schiefe Bahn geratenen Jugendlichen aus Georgien - hart geworden durch den ständig besoffenen und prügelnden Vater, gestählt im Faustkampf auf den Straßen seiner Heimatstadt Gori. Stalin, so  Montefiore, plagten Komplexe. Schließlich hatte er seit einem Unfall einen schiefen Gang, außerdem quälte ihn das Gerücht, ein uneheliches Kind zu sein.
      
Von den Jugendbanden in seiner Geburtsstadt Gori führt nach Meinung des Autors ein direkter Weg zum Gangster Stalin, der mit Banküberfällen die Parteikasse der Bolschewisten füllte. Montefiore schildert den Überfall auf eine Postkutsche am 13. Juni 1907 wie einen Western. Stalins "Kampfgruppe" erbeutete umgerechnet drei Millionen Euro. Laut Geheimdienst-Archiv wurden bei dem brutalen Überfall 40 Menschen getötet. Stalin war angeblich direkt an dem Überfall beteiligt. Exakte Belege dafür gibt es allerdings nicht. So wird nicht klar, ob Stalin nun selbst Granaten vom Dach eines Hauses auf die Postkutsche warf oder ob er am Bahnhof wartete, um sich, falls der Überfall missglücken sollte, aus dem Staub zu machen.


Stalin Gedenkfeier zum 127. Geburtstag in Gori
Alexander Klimchuk

Auf der BettkanteMontefiore hat ein unterhaltsames Buch geschrieben. Der Autor zitiert aus privater Post und Geheimprotokollen. Aus Archiv-Fundstücken übernimmt er unbekümmert Dialoge und vermittelt so den Eindruck, er habe auf der Bettkante gesessen, als der Revolutionär mal wieder mal eine Teenagerin flachlegte.Aus der Not, dass es nur noch wenige überlebende Zeitzeugen der Stalin-Zeit gibt, macht Montefiore eine Tugend: "Archivquellen sind verlässlicher als mündliche Überlieferungen", erklärt er. Die wenigen Zeitzeugen, die Montefiore interviewte, hat der Autor vor allem in Georgien gefunden. Stalin erscheint durch sie in einem neuen Licht. Er sei nicht nur Monster gewesen. In seiner Jugend habe er Gedichte geschrieben. Der georgische Prinz Ilja Chavchavadse wählte fünf seiner Gedichte aus und veröffentlichte sie in der bekannten Literatur-Zeitschrift Iveria.Auf Frauen, so Montefiore, habe Stalin anziehend gewirkt. Er habe gut gesungen und sich in klassischer Literatur ausgekannt, ein guter Schüler sei er gewesen. Vor Künstlern habe er bis zu seinem Tod einen gewissen Respekt gehabt. Parteiarbeiter und ihre Frauen lies er später gnadenlos liquidieren, Künstler wie Boris Pasternak und Dmitrij Schostakowitsch jedoch verschonte er vor physischer Vernichtung. War Stalin ein Doppel-Agent?Montefiore geht auch einer These nach, die das erste Mal in den 50er Jahren in westlichen Experten-Kreisen erörtert wurde. War Stalin ein Doppelagent der zaristischen Geheimpolizei? Der Brite untersucht einige Quellen, verwirft die These dann aber, da sie "auf schwachen Füßen", stehe. Und wer war Stalin nun wirklich? Ein "frommer Marxist mit halb islamischem Eifer", der von seiner geschichtlichen Mission überzeugt war, so der Autor.Stalin war einer der wenigen Bolschewiken, die vor dem ersten Weltkrieg nicht in der Emigration gelebt hatten. Wohl auch deshalb gab es zwischen dem Emigranten Lenin und dem Untergrundkämpfer Stalin scharfe Meinungsverschiedenheiten. Lenin empörte sich über Stalins "versöhnlerische" Leitartikel in der Prawda. Stalin wiederum war erstaunt über Lenins Realitätsferne. Doch die beiden fanden schließlich zusammen. Lenin, so hebt Montefiore hervor, habe Stalins Banküberfälle und damit den Terrorismus gutgeheißen. Dass Lenin die Genossen in seinem "Testament" vor Stalins Grobheit warnte, passt allerdings nicht in dieses Bild. Montefiore erwähnt dies denn auch nur in einer Fußnote.


Umzug zum Geburtstag Stalins in Georgien
Alexander KlimchukDer Frauen-VerbraucherViel Raum widmet der Autor den Frauengeschichten des späteren Diktators. "Stalin wurde von energischen Frauen angezogen, gab letzten Endes jedoch gehorsamen Hausfrauen und Teenagern den Vorzug", so Montefiores Befund. Außer seinen beiden Ehefrauen hatte Stalin viele Geliebte. Mit einer Frau zu schlafen, war für ihn "kein moralisches Problem sondern höchstens ein Sicherheitsrisiko". Säuberlich hat Montefiore die Postkarten einer Geliebten aus der Verbannung fotografiert und sein Buch damit illustriert. Authentizität geht dem Autor über alles. Selbst die Unterwäsche des späteren Diktators findet Beachtung. Deren Reinigung sei "eine Zumutung" gewesen, so eine von Stalins Haushälterinnen nach dem Tod des Diktators.Das Privatleben des Revolutionärs jedoch war ebenfalls voller Tragik. Seine erste Frau Kato starb in Baku an Fleckfieber. Stalin hatte kaum Zeit für sie. Der gemeinsame Sohn Jakow wuchs bei Verwandten in Georgien auf. Als er 1921 zu seinem Vater nach Moskau übersiedelte, kam es zur Tragödie. Jakow versuchte, sich umzubringen - und Stalin höhnte: "Er kann noch nicht einmal geradeaus schießen". Im November 1932 beging Stalins zweite Frau, die 23 Jahre jüngere Nadja, Selbstmord, weil sie unter seinen ständigen Flirts litt.
 
Während seiner letzten Verbannung an den Polarkreis verliebte sich der 34jährige Untergrundkämpfer Josef Stalin in Lidija, die 13-jährige Tochter seiner Wirtin. Im Kapitel "Eine arktische Sexkomödie" schildert Montefiore, wie das Mädchen schwanger wurde. Unter dem Druck ihrer Brüder versprach Stalin, Lidija zu heiraten, machte sich dann jedoch aus dem Staub und ließ nie wieder etwas von sich hören. Mindestens noch zwei weitere uneheliche Söhne zeugte Stalin in der Verbannung. Sohn Konstantin machte Karriere im ZK-Apparat, Sohn Aleksandr wurde Leiter einer Kantine in der Bergbaustadt Nowokusnezk. Beide verpflichteten sich gegenüber dem Geheimdienst, nicht über ihre Herkunft zu reden.Veröffentlichung auch in RusslandSimon Sebag Montefiore hatte als einer der ersten Zugang zum 1999 geöffneten Stalin-Archiv. Ein erstes Resultat seiner damaligen Forschungen war das Buch "Am Hof des Roten Zaren" (2003). "Young Stalin" nun soll Mitte nächsten Jahres mit einer Startauflage von 7000 Exemplaren im Moskauer Verlag Vagrius erscheinen. Auch Montefiores erstes Stalin-Buch "Am Hof des roten Zaren" ist in Russland erschienen, allerdings nur in einer Auflage von 15000 Exemplaren. Der Trend weg von trockener Geschichte hin zu historischer Unterhaltung ist damit auch in Russland erkennbar. Doch mit Harry Potter können in Moskau selbst Enthüllungen über Stalins Frauengeschichten nicht mithalten. Das siebte Harry Potter-Buch hat in Russland eine Auflage von 1,8 Millionen.ENDEUlrich Heyden


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