Atomkrieg zum Anfassen
Atomkrieg zum Anfassen
Moskau (n-ost) - Das Licht geht aus. Eine Sirene heult. Nach einem Krachen scheppern die Lautsprecher. "Achtung, Achtung. Der Gegner hat auf das Territorium unseres Staates einen Atomwaffenschlag verübt. Die Radioaktivität liegt bei 2000 Mikroröntgen. Der Oberbefehlshaber der UdSSR hat einen Atomschlag auf das Territorium des Gegners angeordnet."
Wir befinden uns 60 Meter unter der Erde im ehemaligen Geheimobjekt Nr. 42. In dem Bunker wollte die militärische Führung der Sowjetunion im Falle eines Atomkrieges die Verbindung zu den Raketenabwehrstellungen aufrecht erhalten. Erst im letzten Jahr wurde die Geheimhaltung für das Objekt aufgehoben.
Das ehemalige Geheim-Objekt besteht aus vier parallel liegenden, mächtigen Röhren. Sie sind etwa eineinhalb Mal so groß wie ein normaler Moskauer Metro-Tunnel. Der Bunker hatte seine eigene Belüftungsanlage und seinen Lebensmittelvorrat. Drei Monate lang sollte er im Fall eines Atomkrieges unabhängig von der Außenwelt arbeiten können.
In Fünfer-Gruppen zur Arbeit
Von außen jedoch deutet nichts auf dieses gigantische Objekt hin. Man betritt den Bunker über ein unscheinbares Verwaltungshaus in der Kotelnitscheski-Gasse Nr. 5. "Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, kamen die Mitarbeiter in Fünfer-Gruppen zur Arbeit", berichtet Viktor. Der 21-jährige Geschichtsstudent ist an diesem Tag unser Führer. Die Anwohner, sagt er, hätten von dem Objekt nichts mitbekommen. "Als Anfang der 50er Jahre unter der Erde gesprengt wurde, dachten die Leute, es handele sich um den Bau einer Metro", erzählt Viktor.
Der 7000 Quadratmeter große Bunker liegt direkt in der Moskauer Innenstadt, nur fünf Minuten von der Metro-Station Taganka entfernt. In 300 unterirdischen Räumen arbeiteten zu Zeiten der Kuba-Krise 2500 Nachrichten-Offiziere und ihr Hilfspersonal. Zahlreiche solcher unterirdischen Geheimobjekte existieren bis heute in der Moskauer Innenstadt. Dazu gehören auch Metro-Linien, die extra für die Sowjetführung gebaut wurden.
"Kampf unter allen Bedingungen"
Nachdem das Krachen des Atomschlages vorbei ist, hört man nur noch das Donnern der Metro, die unmittelbar am Bunker vorbeifährt. Die Informatik-Studenten der Lomonossow-Uni, mit denen ich die 300 Stufen unter die Erde hinabgestiegen bin, haben sich grüne Soldatenmäntel übergehängt. Man solle sich vor Staub und Kälte schützen, meint Viktor. Durch Pfützen stapfen wir die langen, mit rostigen Stahlplatten beschlagenen Gänge entlang. Man muss aufpassen. Manchmal liegen Bretter und Kabel im Weg. "Wie ein echter sowjetischer Soldat muss man hier bereit sein zum Kampf und zur Arbeit unter allen Bedingungen," scherzt Viktor.
Die Geschichte des Bunkers ist voller Wendungen. 1951 erteilte Stalin den Befehl zum Bau der unterirdischen Anlage. 1956 wurde das Objekt in Betrieb genommen. Weil sich die Nachrichtentechnik weiterentwickelte, begann man 1985 mit der Modernisierung. Doch 1995 ging das Geld aus und die Arbeiten wurden eingestellt. Heute brauche man solche großen Anlagen nicht mehr, meint Viktor, denn in der Nachrichtentechnik sei alles "klein und kompakt." Auf einer Auktion wurde der Bunker schließlich für den Spottpreis von 1,8 Millionen Euro an die Moskauer Immobilienfirma Nowik-Servis verkauft.
Kulturabende mit kalter Platte
Der neue Eigentümer will unter der Erde ein Museum und ein Vergnügungszentrum einrichten. Bisher sieht man jedoch vor allem nackte, rostige Wände aus vernieteten Stahlplatten. Denn in den 90er Jahren wurde alles, was nicht niet- und nagelfest war, aus dem Bunker herausgeschafft. Dabei ist nicht ganz klar, ob das Geheimobjekt im Chaos der 90er Jahre geplündert oder auf Anweisung der Militärführung geräumt wurde. Viktor meint, die Einrichtung sei so hochgeheim, dass es bis heute kein Foto vom Bunker im Arbeitszustand gibt. Um ein bisschen Atmosphäre zu schaffen, haben die Betreiber des Museums einige alte Fernschreiber und Telefone in eine der unterirdischen Hallen geschafft.
Die Betreiber des Museums nutzen ihren Bunker multifunktional. Hier proben Rockbands, es werden Filme gedreht. Es gibt Kulturabende mit kalten Häppchen und Wodka. In einer der Röhren hängt eine Fotoausstellung. Der Schriftsteller Dmitri Gluchowski las kürzlich aus seinem Roman "Metro 2033", der vom Leben in der Metro nach einer Atomkatastrophe handelt. Auch Firmen nutzen das Objekt inzwischen immer öfter für ausgefallene Betriebsfeiern. Die Zahl der Museumsbesucher steigt. Es kommen Schülern, Studenten und Touristen. "Der kalte Krieg hat eine bestimmte Anziehungskraft", so unser junger Führer.
Besser verhandeln
In einem unterirdischen Vorführraum sehen wir einen Film über den Kalten Krieg. Es geht los mit den Atombomben der Amerikaner in Hiroschima und Nagasaki, 1945. Dann holen die Sowjets auf und zünden 1949 eine Testbombe in der kasachischen Steppe. Im Minutentakt zeigt der Film Atompilze, Tests der Amerikaner, Briten und Sowjets. Die gewaltigen Atompilze, die Häuser, Autos, Wälder und Schiffe in Sekundenbruchteilen zu Staub verwandeln, wirken wie schreckliche, von Menschenhand geschaffene Geschwüre. Da fühlt man sich in dem tiefen Keller fast ein bisschen beschützt. Später geht es um die Kuba-Krise, als ein Atomkrieg in letzter Minute abgewendet wurde. Man sieht Chrutschow und Kennedy bei Gesprächen. "Besser verhandeln als sich gegenseitig vernichten", meint eine Uni-Dozentin.
Der Film endet mit den Abrüstungsverhandlungen zwischen Gorbatschow und Reagan Ende der 80er. Während sich Schneidbrenner an sowjetischen Raketen-Köpfen zu schaffen machen und die Kamera in zerstörte sowjetische Raketen-Abschussschächte schwenkt, kommentiert die Stimme aus dem Off, der Abrüstungskurs sei von "guter Absicht" gewesen "aber das Ergebnis wurde unsere nationale Tragödie und Schande. Das war der größte Sieg der Amerikaner im Kalten Krieg." Der Film sei "sehr gut" gewesen, meint die Uni-Dozentin, als das Licht wieder angeht. Was genau sie gut fand, will sie nicht verraten.
Durch Pfützen zum Kommandostand
Vom Vorführraum geht es in eine große Halle, in der alte Telefone und Fernmeldeapparate aufgebaut sind. Viktor weist einen Studenten an, eine Meldung "nach Kiew" durchzugeben. Die Studenten kichern. So ganz ernst scheinen sie das alles nicht zu nehmen. Hinter einem alten Schreibtisch steht ein junge Russin im kurzen Schwarzen. Vor ihr liegen zwei Kalaschnikows. Was sie hier mache? "Ich werbe für Gewehre", meint die Museumsangestellte mit einem anzüglichen Grinsen.
Schon greifen Hände nach den Waffen. Das Klacken des Gewehrschlosses hallt durch den Tunnel. Im Wehrkundeunterricht an der Uni lernt jeder Student, wie man eine Kalaschnikow auseinandernimmt und wieder zusammensetzt. Dann wird posiert, die Waffe vor der Brust. Blitzlichter flackern.
"Alle 15 Jahre neue Geschichtsbücher"
Ob er auch meint, dass die Abrüstung ein Sieg der USA war, will ich von Viktor wissen. "Russland ist nicht mehr das gleiche Land wie vor 15 Jahren", antwortet der Geschichtsstudent vieldeutig. "Bei uns werden alle 15 Jahre die Geschichtsbücher umgeschrieben. Die ideologische Doktrin ändert sich häufig. Das war auch zu Sowjetzeiten so."
Nach eineinhalb Stunden geht es wieder nach oben. Diesmal fahren wir mit dem Lift. "Bitte die Waffen abgeben", meint die junge Dame in schwarz. Die Studenten lachen. Hier im Bunker weiß man nicht immer genau, was Spaß ist und was Ernst.
ENDE
---------------------------------------------------------------------------
Wenn Sie einen Artikel übernehmen oder neu in den n-ost-Verteiler aufgenommen werden möchten, genügt eine kurze E-Mail an n-ost@n-ost.org. Der Artikel wird sofort für Sie reserviert und für andere Medien aus Ihrem Verbreitungsgebiet gesperrt. Im übrigen verweisen wir auf unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) unter www.n-ost.org. Das Honorar überweisen Sie bitte mit Stichwortangabe des Artikelthemas an die individuelle Kontonummer des Autors:
Ulrich Heyden