Kirgisistan

Keine Illusionen mehr

Edil Baisalow sitzt in seinem Büro gegenüber vom „Weißen Haus“, dem Regierungs- und Parlamentssitz in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. In der Ecke steht eine zersplitterte Fensterscheibe, in der Mauer sind Einschusslöcher zu sehen. „Hier haben sie geschossen im April vergangenen Jahres“, sagt der junge Politiker. „87 Menschen sind gestorben. Aber leider war die ganze Revolution eine einzige Niederlage. Sie haben zwar die Staatsform geändert, aber die Ursachen für die Missstände hier sind bis heute nicht beseitigt.“

Schritt in Richtung Demokratie

Wie der 34-jährige Baisalow denken mittlerweile viele Kirgisen, die noch im vergangenen Jahr für Demokratie und mehr Freiheit kämpften. Nach dem Sturz des damaligen Präsidenten Kurmanbek Bakijew war es im Süden des Landes zu blutigen Konflikten zwischen Kirgisen und Usbeken gekommen, hunderte Menschen starben, zehntausende ethnische Usbeken flohen ins benachbarte Usbekistan. Als sich Kirgistan wieder stabilisierte, stimmten die kirgisischen Wähler bei einem Referendum für eine parlamentarische Demokratie und einen weniger starken Präsidenten.

Ein neues Parlament wurde gewählt, das eine Koalitionsregierung aufstellte. Erstmals überhaupt wagte damit ein Land im postsowjetischen Zentralasien den Schritt Richtung Demokratie. In den Nachbarstaaten Kasachstan oder Usbekistan herrschen nach wie vor Diktatoren, die seit 20 Jahren mit großer Härte ihre autokratischen Regime aufrechterhalten.

Am 30. Oktober steht nun eine freie Präsidentenwahl an. Diesmal künden nicht Demonstrationen und Schießereien vom Wechsel des Präsidenten, sondern riesige Wahlplakate mit den Konterfeis von insgesamt 23 Kandidaten. Die prominentesten sind Mitglieder der Übergangsregierung von Interimspräsidentin Rosa Otunbajewa, die ihr Amt laut Verfassung nur bis Ende des Jahres behalten darf: Almasbek Atambajew ist der derzeitige Premierminister und Chef der Sozialdemokraten, Kamchybek Taschijew sitzt für die konservative Ata-Zhurt-Partei im Parlament.

Schriftsteller-Tochter Schirin Aitmatowa

Doch die Hoffnungen des Westens, dass nach den Präsidentschaftswahlen die Demokratisierung Kirgistans und die so wichtigen wirtschaftlichen und politischen Reformen fortgesetzt werden, teilt in Kirgistan kaum jemand. Schirin Aitmatowa ist mit 34 Jahren eine der jüngsten Abgeordneten im kirgisischen Parlament Zhogorku Kenesch. Aitmatowa, die Tochter des bekannten kirgisischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow, war erst durch die kirgisisch-usbekischen Konflikte im vergangenen Jahr politisch aktiv geworden. Sie richtete eine Facebook-Seite für die kirgisischen Opfer ein – und wurde danach von mehreren Parteien umworben. Sie entschied sich für die sozialistisch ausgerichtete, heutige Oppositionspartei Atameken, für die sie jetzt im Parlament sitzt. Nach einem Jahr oftmals fruchtloser Parlamentsdebatten und Diskussionen mit alteingesessenen Politfunktionären, ist sie sichtbar müde und desillusioniert: „Wir erwarten alle, dass der Parlamentarismus wieder abgeschafft wird.“ Kirgistan sei wirtschaftlich zu schwach, um in Zentralasien den Alleingang als parlamentarische Demokratie fortzuführen. Sie erwarte deshalb die Rückkehr „zu einem Modell größerer politischer Ergebenheit, wie es in Zentralasien üblich ist.“

Viele ziehen sich enttäuscht zurück

Edil Baisalow, der nach dem Regierungsumsturz im vergangenen Jahr aus dem schwedischen Exil nach Kirgistan zurückgekehrt war und Chef des Apparates von Präsidentin Otunbajewa wurde, hat sich aus der aktiven Politik zurückgezogen. Seine eigene Partei, mit der er bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr angetreten war, existiert nicht mehr. Den Job bei Präsidentin Otunbajewa hatte er schon wenige Monate nach deren Amtsübernahme gekündigt. „Es gab keine echte Erneuerung, keinen entschiedenen Bruch mit dem Vergangenen“, sagt er. Seine Enttäuschung hält bis heute an. „90 Prozent der jetzigen Abgeordneten haben bereits unter dem alten, korrupten System von Bakijew gearbeitet – und niemand zieht sie zur Verantwortung.“

Zwar hat die neue Regierung einige große Projekte in Angriff genommen, beispielsweise die Reform im Justizsektor. Doch Korruption und Vetternwirtschaft verhindern bis heute einen grundlegenden Wandel. Kirgisistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt, mehr als zehn Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung verdingen sich als Gastarbeiter in Russland oder Kasachstan.

Kaum Vertrauen in die Demokratie

Azis Scharschejew ist 24 Jahre alt und einer der wenigen gut ausgebildeten Kirgisen, die in Kirgistan eine Perspektive sehen. Er hat in den USA studiert, ist zurückgekehrt und baut nun mit Geschäftsfreunden aus den USA einen Kohletagebau in Kirgisistan aus. Als eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung sieht Scharschejew die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten in Kirgistan: „Demokratie ohne Bildung ist keine Demokratie, und bei uns ist die Ausbildung der jungen Leute auf sehr niedrigem Niveau.“

Viele Kirgisen glauben nicht mehr daran, dass Demokratie für das von Konflikten gebeutelte zentralasiatische Land momentan überhaupt das richtige ist. „Ich halte nichts vom Parlamentarismus,“ sagt der 24-jährige Regisseur Alexander Tsay. „Wenn viele Leute gleichberechtigt eine Entscheidung treffen, erschwert das nur die Prozesse. Wir brauchen wieder einen starken Präsidenten.“ Tsay hat gerade einen Film mit dem Titel „Bischkek, ich liebe Dich“ gedreht, mit dem er ein „positives Bild“ des Landes zeigen will: Kurzgeschichten erzählen vom Alltag in Kirgisistan, von Korruption, Vetternwirtschaft, aber auch von der Liebe zur Hauptstadt und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Wenige Tage nach der Wahl wird er in die kirgisischen Kinos kommen.


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