Wo der Wahnsinn zu Hause ist
Aus den Szenevierteln deutscher Großstädte sind sie nicht mehr wegzuhören: Kleine, drei bis vier Mann starke Combos mit Trommeln, Ziehharmonika und Trompeten. Was in Deutschland meist schräg klingt, findet mitten in Serbien in Perfektion statt, allerdings dann in größeren Ausmaßen in bis zu Zwölf-Mann-Orchestern. Dort feiern alljährlich Hunderttausende das größte und wildeste Trompeten-Festival der Welt in Guca, einem 5.000 Seelen Dorf 120 Kilometer südwestlich von Belgrad.
Für verwöhnte Besucher wären die Zustände in Guca wohl nichts: Zum diesjährigen Festival zwischen dem 8. und 12. August standen nur drei Hotels und einige Privatunterkünfte zur Verfügung, in denen dann extra ein Zimmer für die Gäste frei geräumt wurde. Doch davon lassen sich echte Blasmusik-Fans nicht abschrecken. Die restlichen geschätzten 499.000 Besucher erobern einfach den öffentlichen Raum als Schlafplatz. Die Mutigsten zelten auf dem Friedhof. Und wer es nicht mehr auf seine Isomatte schafft oder sich um fünf Uhr morgens orientierungslos um die eigene Achse dreht, der legt sich einfach in einen Hauseingang oder neben die anderen Bierleichen am zentralen Treffpunkt, der bronzenen, vier Meter hohen Trompeterstatue an der Straße der Republik. Denn eigentlich geht es in Guca nur um eins: Die „Goldene Trompete“. Eigentlich.
Blechbläser in Guca / Jan Zappner, n-ost
Bereits zum 47. Mal trafen sich in Guca die besten 20 Blechblasorchester Serbiens, um die begehrte Musikertrophäe, die „Goldene Trompete“, unter sich auszuspielen. Dem Gewinner winken Ruhm, Ehre und Geld, denn mit der Auszeichnung kommen auch die lukrativen Aufträge. Bei Hochzeiten und Beerdigungen sorgt man dann für die akkustische Untermalung. Doch bevor der eigentliche Wettbewerb am Sonntag mit einer feierlichen Parade aller Beteiligten durch das Dorf beginnt, müssen drei Tage voller Ausschweifungen erlebt und überlebt werden.
Denn hauptsächlich geht es in Guca darum, total enthemmt die Welt um sich herum zu vergessen – und das rund um die Uhr. Eine Stunde, in der keine Trompetenklänge durch den Ort hallen, sei es live oder aus Lautsprechern, gibt es nicht. Überall an den schmalen Dorfstraßen sind Bierzelte und Grillstände aufgebaut. Im Zelt des Restaurants Shumitza wird jeden Tag ein ganzer Ochse aufgespießt und per Hand so lange über dem Feuer gedreht, bis auch das letzte Stück Fleisch im Magen eines hungrigen Kunden gelandet ist. Was üblicherweise nach knapp 14 Stunden der Fall ist. Ein paar Meter weiter bläst der CD-Shop Trompetenklänge in die Menge, worauf sich prompt die Beine einer blonden Serbin im schwarzen Mini und rot leuchtenden Lippen und eines schmächtigen Spaniers mit Vokuhila Schnitt und herausquellendem Brusthaar ineinander verhaken. „Ich tanze von früh bis spät durch die Straßen“, sagt die 23-jährige Dragisa Michailovic aus Belgrad. „Schlafen kann ich wenn ich nach Hause komme“. Der tägliche Wahnsinn beginnt in Guca früh.
Im Film „Gucha!“ von Dusan Milic, der am 23. August in die deutschen Kinos kommt, spielt das kollektive Besäufnis dagegen eine untergeordnete Rolle. Die Geschichte ist schnell erzählt: Der Gypsie Romeo liebt die Serbin Julijana, deren Vater die Liebe erst akzeptieren will, wenn Romeo die „Goldene Trompete“ in einem Wettstreit mit seinem ärgsten Konkurrenten erringt und damit seine Eignung als Schwiegersohn beweist. Milic ist ein Schüler von Emir Kusturica und ähnlich wie in dessen Klassiker „Schwarze Katze, weißer Kater“ ist auch in „Gucha!“ am Originalschauplatz im Anschluss an das Festival 2006 gedreht worden. Dem Hauptdarsteller, Marko Markovic ist die Trophäe dabei nicht unbekannt: Sein Vater, Boban Markovic, gewann die „Goldene Trompete“ fünfmal in Folge und startet seitdem nur noch außerhalb der Konkurrenz. Auch wenn der Film das Festival als das darstellt, was es einmal war, nämlich ein reines Musikfestival, hilft die Folklore nicht, die Schatten der Realität aufzuhellen.
Neben den Spanferkeln und Hackfleischburgern kann man nämlich ohne Probleme schwarze T-Shirts mit dem Konterfei des als Kriegsverbrecher gesuchten Serben-Generals Ratko Mladic erwerben. Auch das auf Baumwolle gedruckte Gesicht des ehemaligen Präsidenten von Serbien und in Haft am Internationalen Strafgerichthofs in Den Haag verstorbenen Slobodan Milosovic findet Käufer. Beide Männer sind für Massaker während der Balkankriege in den neunziger Jahren verantwortlich. Und auch wenn der Mitorganisator des Festivals Aleksandar Pajovic betont, wie „unpolitisch“ Guca sei, die Totenkopfflaggen der Tschetniks sprechen eine andere Sprache. „Freiheit oder Tod“ steht unter den überkreuzten Knochen, „Mit Glauben und Gott“ über dem Schädel. Die Ultranationalisten stehen für ein ethnisch reines Serbien. Die Gypsie-Bands stört das hier nicht. Auf diesem Festival sind sie die Könige, die Stars.
In jeder Bar, jedem Zelt, an jeder Straßenecke bildet sich sofort eine dichte Menschentraube hautnah um die Musiker, die wild tanzend und lautstark mehr Rhythmus, schnellere Beats und noch lautere Trompeten fordert. Wer Geld hat, winkt sich eine Band heran, klatscht einen Geldschein auf eine schweißnasse Musikerstirn oder steckt ihn in die golden glänzenden Instrumente. „Jedes Jahr freue ich mich wie ein kleines Kind auf dieses Fest“, sagt der 45-jährige Dragoslav Jovovic, der eine lange Anfahrt aus Frankfurt hinter sich hat. „Da lasse ich gern auch was springen, es sind schließlich die Besten der Besten, die hier für uns spielen“. Wenn es gut läuft, können so 600 Euro für einen Tisch zusammen kommen.
Zum Orkan wird der Trompetensturm durch Coceks, Bauchtänzerinnen. Die vom Rakija (Schnaps) benebelten Männer lassen ihren Händen dann freien Lauf und erkunden jeden Zentimeter der zierlichen Körper. Bis die Band weiterzieht und mit ihr die Coceks. Lange dauert es allerdings nie, bis die nächste Gruppe auftaucht und die Luft zum Vibrieren bringt. Am Sonntagmittag ist der Wahnsinn dann fast vorbei. Nur noch wenige tausend haben es in das kleine Fußballstadion geschafft, um dem eigentlichem Anlass, dem Wettbewerb um die „Goldene Trompete“, beizuwohnen. 20 Orchester – 10 serbische und 10 Gyspie-Orchester – spielen jeweils zwei Lieder, immer abwechselnd. Schön politisch korrekt. Zur Eröffnung spricht der Premier der Serbischen Republik Milorad Dodik ein paar Worte, bevor er sich zum Premierminister Serbiens Vojislav Kostunica setzt. Gewonnen hat das Orchester von Demiran Cerimovica – ein Gypsie natürlich. Wie fast jedes Jahr.