Georgien

20 Jahre Zerfall der Sowjetunion

„Russland ist wie die Sonne, die andauernd scheint. Man kann es nicht einfach ausschalten wie eine Lampe“, beschreibt ein georgischer Politologe das Dilemma vieler ehemaligen Sowjetrepubliken. Die meisten sind zerrissen zwischen alten Abhängigkeiten und ihrer Sehnsucht nach Europa.

Wenn georgische Politiker die Landkarte gestalten dürften wie sie wollten, läge ihr Land mitten im Westen. In der Hauptstadt Tiflis weht vor fast jedem öffentlichen Gebäude die Flagge der Europäischen Union. Die Straße zum Flughafen ist nach dem umstrittenen ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush benannt. Und vor dem Parlament verkündet eine Leuchttafel: „Priorität unserer Außenpolitik ist die Integration in die Nato“. An den Schulen ist Englisch die erste Fremdsprache, viele junge Menschen träumen davon, für ein Jahr in die USA zu gehen.

Von Moskau träumt keiner. Georgien erklärte vor zwanzig Jahren als eine der ersten Sowjetrepubliken seine Unabhängigkeit. Seit dem Krieg um Süd-Ossetien 2008 positioniert sich die georgische Führung so deutlich wie noch nie gegen den mächtigen Nachbarn im Norden. Sie eröffnete ein Okkupationsmuseum, das Georgien zum Daueropfer des russischen Imperialismus stilisiert. Sie ließ die überlebensgroße Stalin-Statue in der Geburtsstadt des Diktators demontieren und den Gebrauch sowjetischer Symbole per Gesetz verbieten.

Nur an den geographischen Fakten kann die Regierung nicht rütteln: Georgien und Russland verbindet eine 720 Kilometer lange Grenze. Als diese aus politischen Gründen geschlossen wurde, verloren georgische Händler ihren wichtigsten Markt. Der Politologe Paata Zakareischwili brachte das georgische Dilemma schon vor Jahren auf den Punkt: „Russland ist wie die Sonne, die andauernd scheint. Man kann es nicht einfach ausschalten wie eine Lampe.“

Auch die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken fühlen sich zerrissen zwischen alten Abhängigkeiten von Russland und ihrer Sehnsucht nach Europa. Eine Bronzeplakette in der belarussischen Hauptstadt Minsk beispielsweise weist den Ort als die „Mitte Europas“ aus. Belarus liegt zwar im Zentrum des geographischen Europa, geopolitisch ist das Land 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion allerdings eingeklemmt zwischen der Europäischen Union auf der einen und Russland auf der anderen Seite.

Seit 16 Jahren fußt die Politik des autoritär regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko auf einer engen Anbindung an Russland. Doch wird die Politik Russlands gegenüber Belarus wird immer unberechenbarer: Es begann mit dem Streit über die Gaspreise 2007 und endete mit offener Kritik Russlands an Lukaschenko im vergangenen Jahr. Im Gegenzug war Lukaschenkos Politik gegenüber der Europäischen Union immer wieder von freundlicher Rhetorik begleitet, ohne dass allerdings Taten folgten. Nachdem Lukaschenko Demonstrationen der Opposition anlässlich der Präsidentschaftswahlen im vergangenen Dezember gewaltsam niederschlagen ließ, sind die Beziehungen zwischen der EU und Belarus angespannt.

Die Frage, welchen Weg Belarus einschlägt, ist derzeit ausgesprochen brisant. Denn ohne Hilfe von außen droht dem Land der wirtschaftliche Bankrott. Fragt man die Belarussen selbst, überwiegt die Hinwendung zu Russland: In einer unabhängigen Umfrage von 2010 bevorzugten 30 Prozent eine Union mit Russland und nur 17 Prozent sprachen sich für die EU auch. Doch sind es gerade die Jungen, die sich 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion gen Westen wenden: Unter den 18- bis 24-Jährigen befürworten ganze 60 Prozent einen Beitritt zur EU.

Auch die Ukraine stellt sich seit 20 Jahren die Frage, ob sie ihre Zukunft in Europa oder in Eurasien sieht. Lediglich während der Präsidentschaft Viktor Juschtschenkos, der durch die pro-westliche Orange Revolution 2004 an die Macht gekommen war, positionierte sich die Ex-Sowjetrepublik eindeutig Richtung Westen. Juschtschenko sprach sich für einen schnellen EU- und NATO-Beitritt aus. Inzwischen ist die Ikone der Orangen Revolution, Julia Timoschenko, in Untersuchungshaft. Der als pro-russisch geltende neue Präsident Viktor Janukowitsch hat die Errungenschaften der Revolution weitgehend wieder rückgängig gemacht.

Die westliche Orientierung der Ukraine stieß aber schon immer auf wenig Gegenliebe – weder bei den Partnern im Westen noch im eigenen Land. Vor allem die NATO-Mitgliedschaft wird in der Ukraine bis heute mehrheitlich abgelehnt. Das Motto lautet: Zusammenarbeit ja, Mitgliedschaft, nein.

Nach diesem Grundsatz verfährt auch die aktuelle politische Führung unter Viktor Janukowitsch. Dieser spricht sich öffentlich zwar für eine europäische Integration aus und fordert die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU bis Ende 2011. Gleichzeitig gibt es innerhalb der Regierung starke Kräfte, die die Zukunft des Landes eher an der Seite Russlands sehen. Seit Monaten wirbt Moskau um den Beitritt Kiews in die Zollunion. Unter der Führung Russlands haben sich dort Belarus und Kasachstan zu einem Wirtschaftsverbund zusammengetan. Kritiker sehen in der Union den Versuch Moskaus, seinen Einflussbereich in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion zurückzuerobern.

Janukowitsch lehnt einen Beitritt zur Zollunion zwar ab, hält eine Zusammenarbeit aber für unerlässlich. Die Märkte der Zukunft liegen für ihn aber klar in der EU. Bis ukrainische Produkte auf den Europäischen Binnenmarkt vertrieben werden können, muss das Land aber seine Rechts-, Wirtschafts- und vor allem Demokratiestandards anzupassen. Vor allem beim letzten hapert es. Die Europäische Kommission hat in den vergangenen Monaten mehrfach deutlich gemacht: „Das Tempo und die Qualität der ukrainischen Integration in die EU wird vor allem davon abhängen, dass Menschenrechte, demokratische Prinzipien und Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine respektiert werden“, sagte Erweiterungskommissar Stefan Füle im Frühjahr dieses Jahres.


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