Bulgarien

Geballtes Studentenleben in Plattenbauformat

Runtergekommene Wohnblöcke, der Putz fällt von den Fassaden, Wäscheleinen schmücken die Balkons – kein ungewöhnlicher Anblick in Bulgarien. Doch die sonst so typische Oma, die ihre Einkaufstüten nach Hause schleppt, ist im Sofioter Stadtteil Studentskigrad nicht zu sehen. Hier herrscht die Jugend. Modisch gekleidete Menschen stolzieren mit großen Sonnenbrillen über die mit Müll übersäten Grünflächen. Aus Straßencafés, die sich in kleinen schachtelartigen Containern ihren Platz zwischen den grauen Wohnblockriesen erstreiten, tönt Musik.



Students only / Simone Böcker, n-ost

„Ich finde diesen Ort einmalig“, strahlt Germanistikstudentin Polina. Sie klappt ihr silberglänzendes Handy zusammen und nippt an einem Nescafé. „Nirgendwo sonst kann man so viele junge Menschen treffen. Man kann Menschen kennen lernen, ganz spontan. Das ist sonst nicht so einfach.“ Seit zwei Jahren genießt die 24-jährige in der Studentenstadt ein Leben, das völlig auf die Bedürfnisse junger Leute zugeschnitten ist. Die Läden haben rund um die Uhr geöffnet, um die Studenten mit Burgern, frischer Wäsche oder Kondomen zu versorgen. Kioske, unzählige Imbissbuden und Waschsalons sind in kleinen Hütten zwischen den Blocks untergebracht. „Man kann einkaufen gehen, egal wann. Du musst keine Angst haben, es gibt immer Menschen auf den Straßen, auch um vier Uhr in der Nacht. Das finde ich super.“

Über 30.000 Studenten wohnen in Studentskigrad – auf Deutsch Studentenstadt. Oder kurz: Stuttgrad, wie die Studenten ihr Viertel auch manchmal nennen. Das Areal mit den ca. 60 Wohnblöcken am Fuße des Berges Vitosha, in dem das Durchschnittsalter bei Anfang 20 liegt, ist sieben Kilometer vom Zentrum entfernt. Einst auf der platten Heide außerhalb von Sofia zu Zeiten des Kommunismus gebaut, ist die Stadt heute längst bis zu den Grenzen des Viertels gewachsen. Die Fahrzeit zur Uni mit dem Bus gehört mit 30 bis 40 Minuten zum normalen Maß in der Hauptstadt. Und: diesen Weg nehmen nicht nur die fleißigen Studenten, sondern auch immer mehr Menschen aus dem Zentrum, um sich ins jugendliche Nachtleben der neuen „Partyzone“ zu stürzen.

Zwischen Partyleben und Seminarräumen

Denn: Partys gehören zu Studentski Grad wie der Joghurt zu Bulgarien. Die Zahl der Diskos und Klubs steigt ständig. Sie heißen Infinity oder Jimmy Beam. Es wird investiert in Studentskigrad, das Geschäft mit den Studenten lohnt sich. „Hier ist es billiger, es gibt mehr Frauen und mehr Orte zum Trinken“, erklärt ein goldkettchen-behängter Endzwanziger, der mit seinen Kumpels vor einem Klub lungert. Tatsächlich ist die Dichte an Vergnügungsorten inzwischen so hoch wie nirgends sonst in Sofia.

Ein Ort, der Leute zusammen bringt, aber nicht immer der geeignete Ort zum Studieren ist. Der Weg vom Schreibtisch zur nächsten Theke ist nicht weit. „Wir habe hier in Studentskigrad alles, nur keine akademische Atmosphäre“, beklagt Dragomir. Studenten mit Büchern in den Händen oder in fachliche Diskussionen vertieft – laut dem 26-jährigen Informatikstudenten ein Erlebnis so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. „Sogar in den Räumen, die ursprünglich für Büchereien vorgesehen waren, haben sich mittlerweile Kneipen eingerichtet.“

Auf neun Quadratmetern

Am Eingang zu jedem Wohnblock sitzt eine Pförtnerin hinter einem Fensterchen – ein Relikt aus sozialistischen Zeiten. Einlass gibt es nur mit Chipkarte, Fremde müssen sich anmelden. Doch nehmen es die Damen nicht immer so genau. Petja sitzt auf ihrer schmalen Matratze in Block 54, 5. Stock, Zimmer 532. Auf neun Quadratmetern sind zwei Betten, zwei Schreibtische, ein Regal und ein Schrank zusammengepfercht. Die Möbel sind schäbig, der Teppich verschlissen, die Tapete hat Risse. Das Interieur verströmt noch den Charme sozialistischer Vergangenheit. So wie alle anderen muss sie sich den spärlichen Raum teilen. Privatsphäre – Mangelware. „Oft passiert es, dass man mit mehr als zwei Personen im Zimmer wohnt. Da ist zum Beispiel der Freund der Mitbewohnerin oder ein anderer Freund, der gerade ein Zimmer braucht und dann auf dem Boden schläft“, erzählt Petja. Laut Hausordnung ist das nicht gestattet, doch nur selten kommt es mit den Blockwächterinnen zu Problemen wegen der ‚Illegalen’.

Von draußen dringt Lärm ins Zimmer, langsam macht sich das Nachtleben bemerkbar. Die Musik lässt die umliegenden Wohnblöcke erzittern. Mit den fünf Jahren, die Petja hier wohnt, gehört sie schon zu den alten Hasen. „Hier ist ein ständiges Kommen und Gehen. Man braucht wirklich starke Nerven, um mit all dem Lärm und den Menschen um dich herum klar zu kommen.“ Doch die Miete ist unschlagbar billig. 40 Euro im Monat – das ist auch in Bulgarien extrem wenig. Jedes Semester müssen sich die Bewohner aufs Neue für die Zimmer bewerben – denn nur mit dem entsprechenden Notendurchschnitt darf man sein Zimmer auch im nächsten Semester behalten. „Das Leben hier müsste manchmal ernsthafter sein. Manchen gelingt es zu spät. Aber wer weiß, warum er da ist, wird es schaffen“, sagt Petja, und macht sich fertig für die Nacht. 


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