Ein tiefer Sprung im Bleikristall
Glas aus Böhmen ist legendär – doch viele kleinere Glashütten kämpfen ums Überleben
Kamenick Šenov (n-ost) - Es gibt Fragen, auf die man keine Antwort hat. Keine rationale wenigstens. Warum er sich entschieden hat, Glasmacher zu werden? Für Venda Šoupal ist das so eine Frage. Zusammen mit rund zehn Kollegen steht der 23-jährige dunkelhaarige Mann auf dem großen Holzpodest in der Produktionshalle der Jílek GmbH und tut das, was die Männer im nordböhmischen Kamenick Šenov (Steinschönau) schon mehrere Generationen tun: Er bläst Glas. Rund um den Fuß des Podestes reihen sich Holzzuber aneinander. Kreuz und quer durch die Halle verlaufen Schläuche, die die Zuber mit kaltem Wasser versorgen. Die Halle ist mindestens zwanzig Meter hoch, durch die weit aufgerissenen Fenster und die breiten Spalten hoch oben im Dachstuhl weht ein ständiger Luftzug. Doch an den Glasöfen auf dem Holzpodest ist es trotzdem so heiß, dass die meisten Arbeiter nur in T-Shirt und kurzer Hose arbeiten.
Noch rauchen die Schlote der Glasöfen in Böhmen
Günter Bartoš„Meine Mutter hat gesagt: Werd Glasmacher, dann hast Du immer Geld und Arbeit“, sagt Venda Šoupal schließlich - und die Kollegen an den Öfen rings herum brechen in schallendes Gelächter aus. Unter den 35 Angestellten der Jílek GmbH ist nämlich keiner, der in den letzten drei Jahren nicht erlebt hat, was es heißt, plötzlich den Job zu verlieren, auf der Straße zu stehen. Und keiner von ihnen ist frei von der Angst, dass sich das alles schon bald wiederholen könnte.Wie die Firma Jílek, die 2005 Konkurs anmelden musste, haben in den letzten Jahren nicht nur die kleinen Glashütten in Jihlava (Iglau), Železný Brod (Eisenbrod) oder Chřibská (Kreibitz), aufgegeben oder Mitarbeiter entlassen. Auch Glas-Giganten wie die Crystalex in Nový Bor (Haida) haben in den letzten Jahren einige traditionelle Unternehmensteile dicht gemacht. 2005 erreichte die tschechische Jahresproduktion beim so genannten „Gebrauchsglas“, also Trinkgläsern, Schüsseln oder Vasen, nur noch 71 Prozent des Niveaus von 2002. Und seit der Jahrtausendwende sind in diesem Zweig der böhmischen Glasproduktion mehr als 40 Prozent aller Arbeitsplätze verloren gegangen.Die Glasmacherkunst, für die Böhmen in der ganzen Welt berühmt ist, steckt tief in der Krise. Und bedroht ist damit mehr als nur ein Zweig der Volkswirtschaft. Vor allem in den hügeligen Waldgebieten Nordböhmens stirbt mit den Glashütten auch ein zentraler Bestandteil der regionalen Identität.Die goldenen Zeiten sind vorbei„Wenn die Glasindustrie zusammenbräche, würde uns das hier schon sehr treffen.“ Jiří Vičan, der Vizebürgermeister von Kamenický Šenov sitzt in seinem Büro im Rathaus und schaut besorgt aus dem Fenster. Links die Kneipe, daneben die Post, schräg gegenüber die Glasschleiferei der Firma „Gebrüder Jílek“ - oder besser gesagt, das, was davon übrig geblieben ist. Seit dem Konkurs vor zwei Jahren liegt das flache, schmucklose Gebäude wie eine Wunde mitten im Herzen der Stadt und glotzt mit seinen toten Fenstern zum Rathaus hinüber. Als eine von insgesamt drei Glashütten in Kamenický Šenov war das 1905 gegründete Familienunternehmen berühmt nicht nur für die Herstellung von Glas. Wie kaum ein anderes Unternehmen in Nordböhmen stand die Firma einst für jene Kunst, die den Weltruhm des böhmischen Glases insgesamt begründete: die Veredelung und Verzierung von Glasprodukten.Vor allem im 17. und 18. Jahrhundert erfreuten sich klares, geschnittenes Glas aus Nordböhmen sowie böhmisches Bleikristall großer Beliebtheit nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Russland und im Orient. In Nordböhmen entstanden deshalb nicht nur zahlreiche neue Hütten, sondern auch die ersten großen Handelsgesellschaften, die böhmisches Glas in alle Welt exportieren. Nach einer Krise zu Beginn des 19. Jahrhunderts führt vor allem die Gründung der Fachschule für Glasmalerei in Kamenický Šenov 1856 zu einem neuen Aufschwung der böhmischen Glasindustrie. Noch heute unterrichtet die Schule unweit des Marktplatzes junge Menschen in der Kunst, Glaskunstwerke zu entwerfen und selber herzustellen.„Ich schätze, dass nach wie vor rund die Hälfte unserer 4000 Einwohner von der Glasindustrie abhängig ist“, sagt Vizebürgermeister Vičan. Und deshalb können auch ihm die Probleme, mit der etwa die Firma Jílek in den letzten Jahren zu kämpfen hatte, keineswegs gleichgültig sein.Wasserpfeifen für Arabien„Die ersten Jahre nach der Wende lief die Firma eigentlich sehr gut“, sagt Milan Vacek, Hüttenmeister bei „Jílek“, der der Firma seit 1981 angehört. „Die Nachfahren der Brüder Jílek hatten das Unternehmen zurückgekauft und die Auftragsbücher waren voll. 170 Angestellte hatten wir hier damals.“ Doch dann kam eins zum anderen – und 2005 war die Firma plötzlich pleite. „Der Glasmarkt ist einfach völlig zusammengebrochen“, sagt Vacek und beschreibt damit nur, was alle Glashüttenbetreiber Böhmens quält. Denn während etwa die Hersteller von Flachglas, also Fensterscheiben, oder Hohlglas (z.B. Flaschen) durchaus positive Bilanzen vorlegen können, kämpfen die Hersteller von Schüsseln und Vasen mit massiven Absatzproblemen.Weit über 90 Prozent der böhmischen Glasproduktion sind für den Export bestimmt. Vor allem in Russland und im Nahen Osten erfreuen sich die farbigen und goldbelegten Gläser, Schalen und Vasen aus Tschechien zwar nach wie vor einiger Beliebtheit, ganz zu schweigen von den gläsernen Wasserpfeifen, die Jílek GmbH im grossen Stil für den arabischen Markt produziert. Doch die Russen und die Araber zahlen in amerikanischen Dollar. Und weil der Dollar gegenüber der tschechischen Krone in den letzten Jahren stark an Wert verloren hat, bringt der Export den Hütten immer weniger Geld ein – bei gleichzeitig steigenden Kosten für die Produktion: Das teure Gas für die Öfen und die enormen Investititonen, die die tschechischen Firmen durch den EU-Beitritt in puncto Umweltschutz nachholen mussten haben dazu geführt, dass die Einnahmen hinter den Ausgaben zurückbleiben und dass die tschechischen Hütten heute nicht mehr mit den wesentlich günstigeren Glasherstellern aus Asien mithalten können. Konkurrenz durch die Hintertür „Mitte April hat unser wichtigster Kunde einen Auftrag im Umfang einer halben Monatsproduktion einfach ohne Begründung storniert“, sagt Jiří Moravec, Mitinhaber der Firma „Rubin-Glass“ in Chřibská (Kreibitz) im Schluckenauer Zipfel. Die Hütte, in der Moravec und sein Mitstreiter Josef Izrael, mit 42 Angestellten heute vor allem violett gefärbte Vasen und Schalen für den Export nach Arabien produzieren, ist eine der ältesten in Mitteleuropa überhaupt. Seit 1414 haben deutsche und tschechische Glaskünstler hier mehr oder weniger ununterbrochen Glas hergestellt, doch das Ende scheint nahe. „Wir haben diese Hütte erst im Januar 2006 aus einem Konkursverfahren heraus ersteigert“, sagt Jiří Moravec. 2003 war der ursprüngliche Besitzer pleite gegangen. Doch trotz erheblicher Investitionen ist es Moravec bislang nicht gelungen, ausreichend neue Kunden zu gewinnen. „Bis 1995 wurde der gesamte tschechische Glasexport über das Staatsunternehmen Skloexport abgewickelt“, sagt er. Doch dann wurde die „Skloexport“ privatisiert, der neue Besitzer führte die Firma in den Ruin.Und so sind die kleinen Glashütten heute darauf angewiesen, sich selbst um die Erschließung neuer Märkte zu kümmern – was, so Moravec, beinahe unmöglich ist. Vor diesem Hintergrund kann der Verlust eines einzigen wichtigen Kunden, wie ihn die Rubin-Glass, im April erlebt hat, zu einer Existenzkrise führen. „Dieser Kunde hat fast 60 Prozent unseres Absatzes ausgemacht“, sagt Jiří Moravec. Er glaubt, dass die plötzliche Stornierung des Auftrags von den Mitarbeitern der Vorgänger-Firma verschuldet wurde. „Mehrere von denen arbeiten schwarz in Vietnam, stellen dort böhmisches Glas zu wesentlich günstigeren Preisen her – und schnappen uns damit die Kunden weg“, sagt er. „Das ist schlicht und einfach unlauterer Wettbewerb.“ Die Hoffnung stirbt zuletzt Ob unlauter oder nicht – mit dem harten Wettbewerb werden die böhmischen Hütten auch in Zukunft fertig werden müssen. Und nach Ansicht des Glasindustrie-Experten Jan Hans Štverák gibt es für die böhmischen Hütten dabei nur zwei Überlebensstrategien: Erstens die Umstellung auf eine hoch automatisierte Massenproduktion, die allerdings mit dem, was Böhmen einst zur Glas-Grossmacht werden ließ, nicht mehr viel zu tun hätte. Wer deshalb auf Handarbeit nicht verzichten will, muss, so Štverák in einer Analyse für die Zeitschrift „Glas-Revue“, auf Originalität und einen hohen Mehrwert setzen. Und das heißt: Technologische Neuerungen, kreative Designs, besondere Verarbeitung.Bei der Firma Jílek in Kamenický Šenov ruhen die Hoffnungen der Mitarbeiter nun auf dem neuen Eigentümer: „Wenn die das umsetzen, was sie sich vorgenommen haben, dann haben wir bestimmt eine Zukunft“, sagt der Glasbläser Václav Tlamka. Und seinem jungen Kollegen Venda Šoupal fällt schließlich doch noch ein, warum er sich entschieden hat, Glasmacher zu werden: „Natürlich ist dieser Job alles andere als sicher – aber er macht mir einfach Spaß.“ Ende
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Anneke Hudalla