Polen

Die Ritter der Quadratwurzel

Warschau (n-ost) - Polens Präsident Lech Kaczynski nahm zum Brüsseler EU-Gipfel extra eine Gruppe von Mathematikern des Warschauer Büros für Europäische Integration mit. Die Zahlen-Experten sollen sämtliche Kompromissvorschläge für den Abstimmungsmodus im EU-Ministerrat durchrechnen. Als eigene Messlatte hat das Staatsoberhaupt dabei im Gegensatz zum System der doppelten Mehrheiten das Prinzip der Quadratwurzel festgelegt, das den Einfluss der großen Länder zugunsten der kleineren EU-Mitglieder verringern würde. Er sei bereit, „für die Quadratwurzel zu sterben“, kündigte Kaczynski an.

Der 59-jährige ehemalige Rechtsprofessor ist in der Wortwahl sonst der etwas moderatere der Kaczynski-Zwillinge. Nur an zwei Muttermalen im Gesicht lassen sich beide auseinander halten. Lech hat anders als Premierminister und Parteichef Jaroslaw Pigmentflecken an und neben der Nase. Seit Sommer 2006 stehen die eineiigen Zwillinge gemeinsam an der Spitze Polens.

Während inhaltlich zwischen die Kaczynskis kein Blatt Papier passt, gilt Jaroslaw als der unangenehmere Zeitgenosse – ein Machtmensch, der im Hintergrund die Fäden zieht, wenn nötig aber auch lautstark und ohne Rücksicht auf Verluste die Richtung vorgibt. Im Wahlkampf vor zwei Jahren forderte er als Spitzenkandidat der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) abwechselnd die Todesstrafe, Reparationen von Deutschland und Berufsverbote für schwule Lehrer. Vor allem Deutschland hat der nicht eben weit gereiste Jaroslaw Kaczynski dabei als außenpolitischen Gegner in der EU identifiziert.

„Wir befinden uns in einer ungewöhnlichen Situation – die Deutschen haben uns einen unvorstellbaren Schaden zugefügt, uns wiederholt ungeheures Leid zugefügt, haben in unvorstellbarem Ausmaße Verbrechen an Polen verübt – und die Polen lieben heute die Deutschen, und die Deutschen lieben die Polen nicht“, klagte der Premierminister kurz vor dem EU-Gipfel in einem Gespräch mit dem staatlichen Polnischen Radio 1 und unterstrich die polnischen Forderungen nach mehr Mitsprache in der EU: „Wir verlangen nur, dass wir zurück erhalten, was uns weggenommen wurde. Wenn Polen nicht die Jahre 1939 bis 1945 hätte durchmachen müssen, wären wir heute ein Staat von 66 Millionen“.

Die Aussage enthält die beiden Jahresdaten, an denen die Kaczynskis ihre Politik des Jahres 2007 geradezu verbissen ausrichten: Im Jahre 1939 wurde Polen durch den Hitler-Stalin-Pakt unter zwei Diktatoren aufgeteilt, 1945 wurde es schließlich in Jalta durch die Westmächte zum wiederholten Mal verraten, zerstückelt und dem Kommunismus ausgeliefert. Immer wieder übertragen die Kaczynskis diese bitteren, historischen Erfahrungen auf die Gegenwart und neigen dabei wie die ihnen gewogenen, konservativen Teile der polnischen Presse zu Überreaktionen. Da wird dann schnell übersehen, dass Entschädigungsforderungen, die ein letztes Grüppchen Ewiggestriger an Polen stellt, mit der offiziellen Politik Deutschlands nichts zu tun haben. Auch dass es in Deutschland eine lange und schmerzliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gegeben hat, wird beharrlich ignoriert. Stattdessen erklären die Kaczynskis jüngste Ansätze, auch deutsches Leid aufzuarbeiten, gleich zum planmäßigen Geschichtsrevisionismus. Und die geplante Ostsee-Pipeline wird zur deutsch-russischen Verschwörung gegen Polen aufgebauscht, obwohl die Vorgängerregierung von den Plänen sehr wohl informiert wurde.

Die Geschichtsfixiertheit der Kaczynskis hat Gründe: Die Eltern der Zwillinge, Rajmund und Jadwiga, haben beide im Zweiten Weltkrieg aktiv gegen die Nazis gekämpft und auch am Warschauer Aufstand 1944 teilgenommen. Die Kaczynski-Zwillinge wurden am 18. Juni 1949 in einem von den Deutschen systematisch vernichteten Warschau geboren. In der Studentenzeit stießen die Zwillinge, die 1962 durch Hauptrollen in dem Kinderfilm „Über zwei, die den Mond gestohlen haben“ im ganzen Land berühmt wurden, zum Widerstand gegen das kommunistische Regime. Anfang der 80er Jahre wirkten beide in Danzig im Umfeld der Solidarnosc, überwarfen sich später aber mit Lech Walesa wegen dessen Politik eines „dicken Strichs“ unter die kommunistische Vergangenheit Polens.  

Als Politiker scheinen die Kaczynskis seit den 90er Jahren regelrecht ein Programm abzuarbeiten, mit dem das an Polen im Laufe von über 300 Jahren verübte historische Unrecht getilgt werden soll. Als Bürgermeister von Warschau sorgte Lech Kaczynski 2002 für die Gründung eines Museums für den Warschauer Aufstand, das die Helden des Widerstandes gegen Wehrmacht und SS würdigt. Kaum an die Macht gekommen, riefen die Zwillinge 2005 eine neue historische Epoche, die IV. Republik aus. Nach Lesart der Kaczynskis dienten die demokratischen Regierungen nach 1989 nur als Fassade, hinter denen weiterhin kommunistische Klüngel und Geheimdienstmitarbeiter die Fäden zogen.In West-Europa sorgen die ungelenk wirkenden Auftritte des kaum 1.60 Meter großen Zwillingspaares immer wieder für Amüsement. In Polen werden sie gerne als „Enten“ bezeichnet. „Kaczka“, das polnische Wort dafür, ist eine Kurzform von Kaczynski. Eine Satire in der taz, in der Staatschef Lech mit einer Kartoffel verglichen wurde, löste sogar diplomatische Verwicklungen aus. Während der etwas ausgeglichener wirkende Präsident Lech verheiratet ist und eine Tochter hat, lebt der Premier immer noch als Katzen begeisterter Junggeselle bei seiner nun 80-jährigen Mutter, die auch sein Konto verwaltet - was erst unlängst für Amüsement sogar in den Hauptnachrichten des amerikanischen Senders Fox News führte.

Vieles spricht aber dafür, dass die gerne belächelten Zwillinge unterschätzt werden. In ihrem Bestreben, Polen in der EU zu neuer Stärke zu verhelfen und zu Hause die kommunistische Vergangenheit des Landes aufzuarbeiten, genießen die Kaczynskis Rückhalt im Volk, gerade unter der großen Zahl der Wendeverlierer. Auch die Ängste vor einem übergroßen Nachbarn Deutschland werden von einer großen Wählergruppe geteilt. Darunter sind entgegen des Klischees durchaus auch junge Wähler, denn nicht immer sind die Erfahrungen, die polnische Studenten oder Arbeitskräfte aus dem Nachbarland mitbringen, uneingeschränkt positiver Natur. Genauer betrachtet ist auch der Kampf der Kaczynskis für die Quadratwurzel ein Coup. Sie machen sich damit zum Anwalt der kleineren EU-Staaten und es gibt durchaus renommierte Mathematiker, die diese Lösung für gerechter halten.

Noch immer scheint die deutsche Politik kein Rezept gefunden zu haben, wie sie mit dem Doppel-Phänomen „Kaczynski“ umzugehen hat. Wer dabei die Nerven verliert, wie die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin, die Polen wegen seiner aktuellen Blockadehaltung gleich zum Austritt aus der EU aufforderte, vertieft jedenfalls gerade die historischen Wunden, mit denen die Kaczynskis in Polen erfolgreich Politik machen. Ein bisschen Selbstkritik steht Deutschland daher im Umgang mit dem östlichen Nachbarn gut zu Gesicht.

 

Ende


 

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Andreas Metz


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