Polen

Junge Kultur in alten Gemäuern

Krakaus jugendliche Kunstszene erobert sich auf ihre Weise die tausendjährige Diva an der WeichselKrakau (n-ost) - Krzysztof Daniel bläst auf seiner Trompete die allseits bekannte, warnende Melodie. Mitten im Ton bricht er abrupt ab. Weit unten, unter seinem Fenster im Turm der Marienkirche sind viele Menschen stehen geblieben und schauen hoch – ihnen winkt Daniel noch kurz zu, bevor er das Fenster wieder schließt. Für die nächste Stunde ist er mit einem Kollegen und ein paar Tauben dort oben allein, während unten auf dem Rynek, dem Marktplatz von Krakau, das bunte Treiben weitergeht.Der gelernte Feuerwehrmann Krzysztof Daniel hat eines der ehrenwertesten Ämter Krakaus inne - er ist „Stadtwächter“. Hier oben auf dem Turm der Marienkirche lässt er eine lange Tradition weiterleben - schon seit 1838 wird die „Hejnal“-Melodie rund um die Uhr zu jeder vollen Stunde geblasen. Das plötzliche Ende der Melodie erinnert an einen Überfall der Tataren vor 700 Jahren auf die polnische Königsstadt. Der damalige Stadtwächter, so die Legende, warnte vor dem Angriff, doch bevor er sein Lied beenden konnte, traf ihn ein Pfeil der Tataren in den Hals. Dass er diese Tradition hochhalten kann, macht Krzysztof Daniel, der seit nunmehr 24 Jahren als Stadtwächter arbeitet, stolz: „Ich habe hier das höchste Amt in Krakau inne“, sagt er und schmunzelt dabei natürlich angesichts der 54 Meter, die er hoch oben über dem Rynek arbeitet.Das „Hejnal“ ist das bekannteste Symbol der tausendjährigen Stadt Krakau. Erstmals wurde die Siedlung um 965 urkundlich erwähnt. 1038 wurde sie Hauptstadt des polnischen Reiches. Nach einer alten Legende errichtete Stammesfürst Krak die Stadt auf dem Wawelhügel über einer Drachenhöhle, nachdem er den dort hausenden Drachen getötet hat. Bis heute kann man an der Stelle zwei Grabhügel finden, in denen nach der Überlieferung Krak und seine Tochter Wanda ihre letzte Ruhestätte gefunden haben sollen.Krakau ist berühmt für die fast gänzlich erhaltene, mittelalterliche Altstadt, die immer noch Ausdruck der bürgerlichen Tradition der einstigen Hauptstadt Polens ist. Hoch über der Weichsel ragt das Wawel-Schloss empor, das Sitz der polnischen Könige war. Allein im letzten Jahr sind acht Millionen Besucher - davon gut ein Viertel aus dem Ausland - nach Krakau gekommen, um sich die Stadt anzusehen. Doch Krakaus Reize liegen nicht nur in der Vergangenheit - in den letzten Jahren hat sich hier eine Kulturszene gebildet, die der alten Diva an der Weichsel ein internationales und jugendliches Flair verleiht.In einer Nebenstraße des altehrwürdigen Rynek betreiben die beiden jungen Modedesignerinnen Maja Kuczminska und Monika Drozynska eine ungewöhnliche Galerie. Ihr „Punkt“ ist vor allem ein Szenetreff für den Austausch von Gedanken, Ideen, Ansichten und Bekanntschaften. Weil so etwas nicht umsonst zu betreiben werden kann, produzieren die beiden Kleidung und Modeaccessoires aus Materialien, die sie selbst recyceln. „Third-Hand“ nennen Kuczminska und Drozynska ihre ausgefallenen Kleidungsstücke. In ganz Polen kaufen sie alte, unbenutzte Stoffe, um daraus neue Kleidungsstücke zu nähen. So werden aus lila-braunem Gardinenstoff der polnischen Eisenbahn hippe Damenblusen, aus Duschvorhängen schräge Mäntel, aus einstigem Deko-Plastikgemüse voluminöse Ohrringe. „Wir wollen die Welt mit Dingen verschönern, die schon existieren“, beschreibt Maja Kuczminska ihre Philosophie. „Das ist ein Stoffkreislauf, der das Schöne in der Welt der Dinge neu zeigt“, ergänzt Monika Drozynska. Kein Stück gebe es zweimal in der gleichen Ausstattung und alles sei durch die Galeriebesitzerinnen Probe getragen. Stolz nähen Kuczminska und Drozynska am Ende in jedes Stück ein Einzigartigkeits-Zertifikat.


Modedesignerin Maja Kuczminska
Hartmut ZiesingEin paar Gehminuten vom Rynek entfernt, am Plac Nowy in Kazimierz, dem einstigen jüdischen Stadtteil Krakaus, sind überall an den Hauswänden Kreide-Schatten von Menschen gezeichnet - eine Erinnerung an die von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg ermordeten jüdischen Bewohner des Stadtteils. Im Zuge eines nächtlichen Kunsthappenings malten Studenten der Krakauer Akademie der Schönen Künste vor einigen Tagen diese Umrisse überall in Kazimierz an Wände, Türen und Gehwege. Chris Schwarz, Direktor des „Galizien-Museums“ in Kazimierz, hatte die Idee zu dieser Aktion. „Wir wollten das Fehlen der Krakauer Juden, der Menschen aus diesem Stadtteil, zeigen“, beschreibt der britische Fotograf das Ziel des Happenings. „Heute gibt es zwar viele Cafes im jüdischen Stil, aber kaum noch Juden in Kazimierz.“ Am nächsten Morgen zeigte sich, dass die Idee ein großer Erfolg wurde.  „Es war unübersehbar in Kazimierz. Die Aktion war überall Gesprächsthema und kein einziger Hausbesitzer hat sich beschwert, dass es illegal gewesen wäre, was wir gemacht haben“, erzählt Schwarz. In seinem Museum dokumentiert er neben einer beeindruckenden Fotoausstellung zum einstigen jüdischen Leben in Galizien jetzt auch die Bilder des nächtlichen Happenings.Als vor zehn Jahren die Bar „Alchemia“ am Plac Nowy eröffnet wurde, war sie erst die zweite in diesem Stadtteil. Wenn es den Anwohnern über der Kneipe zu laut wurde, warfen sie gelegentlich Blumentöpfe auf die Ruhestörer, denn sie wussten sich nicht anders zu wehren - die Bevölkerung in Kazimierz war arm und der Stadtteil heruntergekommen. Heute ist der Platz um die einstige koschere jüdische Markthalle fast nur noch von Cafes und Kneipen umsäumt. Wenn am Abend die Marktstände, wo man noch immer koscheres Fleisch von Pferden, Brieftauben und Zuchtkaninchen kaufen kann, schließen, wird der Plac Nowy für Studenten, Künstler und Touristen zu Krakaus Szenetreff schlechthin.Längst ist das „Alchemia“ keine einfache Kneipe mehr. Seit einiger Zeit gilt der kleine Musikklub im Keller als Zentrum für alternative Musik. Fast 250 Konzerte finden hier pro Jahr statt, darüber hinaus Ausstellungen und Lesungen. Anna Adamska, die als Barfrau im Klub angefangen hat und mittlerweile für das Kulturprogramm zuständig ist, zeigt sich stolz, dass das „Alchemia“ Trends setzt: „Als wir hier angefangen haben, gab es in Krakau praktisch keine junge Musikszene, aber in unserem Klub konnten mittlerweile einige alternative Bands ihre Karriere beginnen.“ Auch inzwischen weltbekannte Krakauer Formationen wie die Klezmer-Gruppe „Kroke“ oder die Akkordeon-Band „Motion Trio“ haben im „Alchemia“ gespielt und Jazz-Größen wie der Amerikaner Ken Vandermark haben bereits Platten im Kellerklub aufgenommen.Besonders freut sich Anna Adamska auf den Sommer. Dann baut das „Alchemia“ auf dem Plac Nowy eine Bühne über der Markthalle auf und veranstaltet das Musikfestival „Sommer auf dem Dach“. Wenn Bands aus Krakau und aller Welt hier loslegen, hat das traditionelle „Hejnal“ des Stadtwächters zumindest für ein paar Tage ernsthafte Konkurrenz bekommen. Die Junge Szene der Stadt bringt neuen Schwung in die alten Gemäuer und macht Krakau zum wichtigsten Kulturzentrum Polens.EndeInfokasten: Anreise:Krakau ist per Flugzeug zu erreichen aus Berlin-Schönefeld (Direct Fly, ab 4.6.2007), Köln/Bonn (Germanwings), Dortmund (Easyjet), Frankfurt am Main (Lot/Lufthansa), Frankfurt Hahn (Ryanair), München (Lufthansa/Lot), Stuttgart (Germanwings) und Wien (Austrian Airlines/Lot).Eisenbahn: Der Intercity „Wawel“ fährt von Hamburg über Berlin direkt nach Krakau, eine direkte Nachtzugverbindung gibt es von Berlin.Auto: Durchgehende Autobahn von der deutsch-polnischen Grenze bis Krakau. Touristikinformation, Hotelverzeichnis:Internetportal der Stadt Krakau: www.krakow.pl „Hejnal“:Turm der Marienkirche, vom 1.5. bis 31.8. Besichtigung Di,. Do., Sa. 9-11.30 und 13 bis 17.30, Eintritt 5 Zloty. Design:Galerie „Punkt“: ul. Slawkowska 12, Mo-Sa 10-19, www.punkt.sklep.plGalerie „Miejsce”: Möbel und Design der 60er und 70er Jahre, ul. Zegadlowicza 2, Mo-Sa 12-19, www.miejsce.sklep.plFlohmarkt: Mit ein bisschen Glück sind schöne Dinge auch auf dem Krakauer Flohmarkt zu finden, sonntags bis 13 Uhr, Markthalle, ul. Grzegorzecka. Kazimierz:Galizien-Museum: Fotoausstellung „Spuren der Erinnerung“ ul. Dajwor 18, tgl. 9-18, Eintritt 7 Zloty, www.galiciajewishmuseum.org„Alchemia“: Bar und Musikklub, ul. Estery 5 (Plac Nowy), www.alchemia.com.plPlac Nowy: Krakaus Kneipenviertel, originell: „Singer“ (ul. Estery 20), „Kolory“ (ul. Estery 10), „Mleczarnia” (Biergarten, ul. Meiselsa 20). Essen:Die besten Pierogi (Maultaschen) gibt es in der Bar „U Stasi”, Mikolajska 16, Mo-Fr 12.30-17. Originelles, einfaches Lokal.Für Nachtschwärmer: Die besten „Krakauer“ vom Grill: tgl. außer Mo. von 21-3 Uhr vor der Markthalle, ul. Grzegorzecka.---------------------------------------------------------------------------
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