Russland

Mit Füßen getreten

Rostow am Don – (n-ost)  Julia Novikova bahnt sich mit schnellen Schritten ihren Weg durch die Passanten. Pfützen, in denen sich das Regewasser gesammelt hat, spiegeln ihr Gesicht wieder. Die 47-jährige Russin hat eine Geschichte zu erzählen, die stellvertretend für all die Menschenopfer steht, die der Süden Russlands fordert. 2003 hat sie im zweiten Tschetschenienkrieg ihren Sohn verloren. Bis zum heutigen Tag ist sie auf der Suche nach seinem Leichnam, den sie hofft, eines Tages beerdigen zu  können.An zwei Männern mit Uniform vorbei betritt Julia ein unscheinbares Haus im Zentrum der südrussischen Stadt Rostow. Zu jenen Uniformierten hat auch einmal ihr Sohn gehört. „Mein einziges Kind, und das hat mir der Krieg genommen“, sagt sie mit erstickter Stimme und wischt sich die Tränen aus den Augen. „Gerade mal 20 Jahre war er alt, als sie ihn auf der Straße aufgriffen und zum Wehrdienst zwangen. Wochenlang haben mein Mann und ich nichts von ihm gehört. Wir gingen zur Polizei, doch die konnten oder wollten uns nicht helfen.“ Etwa drei Wochen später kam der erlösende Anruf aus der Kaserne. Was darauf folgte veränderte Julias Leben für immer. Nach der Zwangsrekrutierung wurde ihr Sohn sofort in den Krieg nach Tschetschenien geschickt. „Wieder hatte ich einige Wochen nichts von ihm gehört. Ich ging zum vorgesetzten Offizier, doch der sagte, von meinem Sohn hätte er nie etwas gehört. Erst als er mir einen Brief schrieb, erfuhr ich, wo sie ihn hingebracht hatten“, beschreibt Julia jenen Moment der Gewissheit und Unruhe. „Erst hatten ihn die älteren Rekruten und die Offiziere in der Ausbildung drangsaliert, und dann musste er für ein Land sterben, das seine Kinder mit Füßen tritt.“
Svetlana Loschkina mit Bildern eines misshandelten Rekruten. Foto: Daniela HaußmannAm Ende eines schmalen Ganges liegt das Büro des Komitees der Soldatenmütter. Unzählige Male ist Julia schon hier gewesen. Bis zu zehn Mütter pro Woche suchen Hilfe bei Svetlana Loschkina, die rechtliche Aufklärungsarbeit leistet und Eltern hilft, ihre nach der Rekrutierung verschollenen Söhne zu finden. Der Andrang ist groß, vor allem während der Einberufungszeiten von April bis Juni und von Oktober bis Dezember ist die Arbeit kaum zu bewältigen. „Es ist die ewig gleiche Geschichte“, sagt die Büroleiterin. „Etwa 25 Prozent aller Wehrpflichtigen in Russland wurden nach gerade einmal sechs Monaten Grundausbildung nach Tschetschenien geschickt. Manche sogar noch früher. Und die Eltern wissen sich nicht zu helfen.“ Dabei seien gerade einmal sechs Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 21 Jahren gesund und kämen damit für den Wehrdienst in Frage. Untersuchungen der Pädiatrischen Akademie in Sankt Petersburg hätten das ergeben. „Die meisten Rekruten, die zu mir kommen, weil sie es in ihren Einheiten nicht mehr aushalten, schicke ich deshalb zur medizinischen Untersuchung, um festzustellen, ob sie tatsächlich tauglich für den Militärdienst sind. Es handelt sich dabei um unabhängige Mediziner, und nicht um Militärärzte, die ein Soll zu erfüllen haben“ erzählt Loschkina. Ob Aids-, Hepatitis-, Nervenkranke oder Epileptiker, sie alle fänden sich trotz Untauglichkeit in der Armee.Der Dienst in der russischen Armee prägt die Männer für den Rest ihres Lebens. „Die Rekruten müssen dazu noch nicht einmal im Krieg gewesen sein“, stellt Loschkina klar. „Unglaubliche Erniedrigungen, Vergewaltigungen, Folter, Erschießungen und Selbstmord prägen den Kasernenalltag. Der russische Wehrdienst verletzt die Menschenwürde und senkt bei den Soldaten die Hemmschwelle zur Gewalt gegenüber anderen.“ Das alles wirkt im zivilen Leben nach. „Alkoholismus, Drogensucht, Gewalt gegenüber der Familie und Selbstmord sind nur einige der möglichen Folgen“, zählt die 68-Jährige auf, während sie Fotos aus einer Akte zieht, die einen Rekruten mit grün und blau geschlagenem Gesicht zeigen. Die zahllosen Aktenstapel mit ärztlichen Gutachten und juristischen Dokumenten, mit denen das 20 Quadratmeter große Büro vollgestopft ist, berichten von geschundenen Schicksalen.  Russland hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet und die Konvention gegen Folter und Zwangsarbeit ratifiziert. Auch die russische Verfassung garantiert Menschen- und Bürgerrechte. Doch Loschkina zufolge mangelt es an der Durchsetzung dieser Rechte. „Die Zahlen und Bilder sprechen für sich“, stellt sie nüchtern fest. Jährlich wenden sich etwa 40 000 Bürger an das Komitee der Soldatenmütter. Pro Jahr haben sie es mit  mehr als 5 000 Rekruten zu tun, die außerhalb des  Kampfeinsatzes ums Leben kamen. „Opfer der sadistischen Militärhierarchie“ nennt Loschkina sie. „Seit der Sowjetzeit hat sich beim Militär nichts verändert. Der Zustand der Armee ist nach wie vor desolat, es existiert keinerlei Gemeinschaftsgefühl.“
Weinende Soldatenmutter.  Foto: Daniela HaußmannDass unter bestimmten Umständen eine Zurückstellung oder gar die vollständige Umgehung des Wehrdienstes möglich sei wissen die wenigsten Russen. Laut der 68-Jährigen wenden sich viele Mütter erst an das Komitee, wenn ihre Söhne bereits einberufen, nach Tschetschenien abkommandiert oder tot sind. So wie Julia, die ihren Mann, ihre Mutter und ihren Arbeitsplatz in ihrer südrussischen Heimat zurückgelassen hat, um sich auf die Suche nach ihrem Sohn zu machen. „Zuerst bin ich nach Moskau gefahren und habe versucht, von den Vorgesetzten meines Sohnes etwas zu erfahren. Ich wollte ihn aus dem Krieg zurückholen. Dass er damals schon tot war wusste ich nicht“, erzählt sie. „Irgendwann hat mir ein Offizier dann die Einheit und den Stationierungsort meines Sohnes genannt.“ Daraufhin ist Julia nach Tschetschenien gereist. Nachdem die dortigen Offiziere ihren Fragen auswichen, hat sie sich an die Soldatenmütter gewandt. „Über Beziehungen konnten wir klären, dass ihr Sohn gefallen war“, erinnert sich Svetlana Loschkina. Teilweise haben die Frauen, die zum Komitee kommen, den Krieg in Tschetschenien selbst miterlebt. Im Munitionshagel haben sie ihre Kinder gesucht. „Mütter wie Rekruten tragen dabei unvorstellbare Wunden an der Seele davon“, weiß die 68-Jährige. „Manche Soldaten, die in Tschetschenien eingesetzt waren, erzählen von der Gefangenen, die misshandelt oder gefoltert wurden. Diese Bilder gehen ihnen nicht mehr aus dem Kopf.“ Eine sozialpsychologische Einrichtung, die den traumatisierten Soldaten hilft, nach ihrem Einsatz wieder ins zivile Leben zurückzufinden, gibt es nicht. Der Staat oder das Militär leistet keine Nachsorge. Laut Loschkina muss es einen nicht wundern, dass manche der Männer außer Kontrolle geraten. „Ihre Menschenrechte werden nicht beachtet“, kritisiert sie. „Bei uns in Russland ist die Armee nicht im Stande, den Schutz des Individuums zu gewährleisten. So kann die Armee auch die Gesellschaft nicht schützen. Vielmehr ist sie verheerend für die Würde des Menschen.“Ende
 
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