Litauen

Hochhäuser gegen Holzhäuser

Vilnius (n-ost) – Litauens Hauptstadt Vilnius boomt. Nicht weit von der Altstadt glänzt am nördlichen Ufer des Flusses Neris die neue Skyline der Stadt im Sonnenlicht. Der Gigant unter den Riesen ist das 33 Stockwerke hohe „Europa-Center“. Das höchste Haus im gesamten Baltikum wurde 2003 fertig gestellt. Zwischen den Glasfassaden der Wolkenkratzer wuseln Passanten auf marmornem Pflaster umher, schwer bepackt von der Ausbeute aus der Shopping-Mall. Doch nur dreißig Schritte sind es bis raus aufs Dorf. Die Siedlung Šnipiškės liegt im Schatten der Wolkenkratzer und steht damit dem Expansionsplänen der Lokalpolitiker im Weg.
Blick auf Šnipiškės. Foto: Dennis MaschmannIn Šnipiškės leben Litauer, Russen, Polen und Roma in ärmlichen Holzhäusern mit Gärten an krummen Feldwegen voller Schlaglöcher. Viele haben keinen Wasseranschluss, das Plumpsklo steht auf dem Hof. Niemand weiß, wie lange die Menschen dort noch wohnen werden, denn Grundstück für Grundstück verleibt sich die moderne Stadt das dörfliche Viertel ein. Doch der Bauboom in Šnipiškės ist ins Stocken geraten. Das Problem für Investoren und Immobilienagenturen: Nach der litauischen Unabhängigkeit 1991 wurden die einst staatseigenen Häuser und Grundstücke in Šnipiškės restituiert und privatisiert. Zum größten Teil ist Šnipiškės Privateigentum, und nicht alle Bewohner wollen ihre Häuser einfach aufgeben.„Sie haben mich bedroht. Seit zwei Jahren kommen immer wieder Leute von dieser Baufirma „imobilar“, manchmal jeden Tag. Gehen Sie fort oder Sie werden kein Leben mehr haben, sagten sie.“ Algis M., der seinen vollen Namen nicht preisgeben möchte, ist wütend. „Alle hier haben Angst, doch ich will nicht gehen. Im September 2005 haben sie meinen Gartenzaun angezündet, einen Monat später dann das Haus. Ein Nachbar hat das Feuer nach fünf Minuten bemerkt und es ist nichts passiert. Und am 16. Januar 2007 gab es um die Ecke in der Šilutis-Straße 28 ein Feuer. Durch den starken Wind ist das Haus schnell abgebrannt.“Verurteilt wurde wegen der Brände bislang niemand, doch sie zeigen Wirkung: Die meisten Bewohner verkaufen ihre Häuser, sie werden abgerissen. Algis M.’s Grundstück mit dem eigenen und zwei kleineren Mietshäuschen ist eins der letzten verbliebenen auf einem großen Feld am nordöstlichen Rand von Šnipiškės. Außer ihnen wohnt nur noch eine allein stehende 91-jährige Frau auf dem Feld. Sie hat ihre Pforte mit Draht verkettet und schützt sich mit zwei großen Wachhunden. Die Dritten im Bunde der Hartnäckigen – eine Familie – hat vor kurzem aufgegeben.Seit zwei Jahren brennt es in Šnipiškės, immer wieder, nicht nur in der Nachbarschaft von Algis M. Verkohlte Ruinen stehen im Schnee, teils umzäunt und von Sicherheitsfirmen bewacht. Bei der letzten Welle von Bränden kurz vor und nach der Jahreswende wurden zwei Jugendliche, 15 und 16 Jahre alt, wegen Brandstiftung an zwei bereits verkauften und verlassenen Häusern verhaftet. Handelten sie aus jugendlichem Übermut oder im Auftrag anderer?Rūta Matonienė, die in der Stadtverwaltung für den Entwicklungsplan für Šnipiškės verantwortlich ist, hat ihre eigene Theorie: „Die Häuser wurden nicht absichtlich angezündet. Es gibt auch viele Obdachlose in Šnipiškės. Die gehen in leere Häuser, machen Feuer, schon brennt es. Sie wissen doch, was diese Leute machen.“Manager Algminas Slavinskas, der für die Firma „imobilar“ in Šnipiškės arbeitet, weigerte sich zu den Bränden und den Plänen der Firma Stellung zu nehmen. Nach Angaben von Passanten soll auf dem Gelände von Algis M.`s Haus ein Handelszentrum entstehen. Auch im Stadtentwicklungsplan der Stadtverwaltung ist das Feld als Zone für gewerbliche Nutzung ausgewiesen.Auch Eglė Pelienė, Direktorin der in Šnipiškės engagierten Makleragentur Šimtasvienas, will zu den Bränden nicht viel mehr sagen: „Wenn jemand hingeht und den Leuten sagt: Geht oder etwas Schlimmes wird passieren, ist das grob. Das ist kriminell. Weiter kommentiere ich das nicht. Das ist zu gefährlich. Man muss eben schauen: Wer hat ein Interesse daran?“ Das „neuen Zentrum“, das in Šnipiškės entstehen soll, liegt lediglich einen Kilometer von der UNESCO-geschützten Altstadt entfernt, Baugenehmigungen werden ohne Denkmalschutzauflagen und Höhenbeschränkungen vergeben, und die Verkehrsanbindung ist gut. Dementsprechend heiß begehrt sind die dort geplanten Büroflächen und damit auch die Grundstücke.
Holzhaus versus Wolkenkratzer. Foto: Dennis MaschmannBis 2009, wenn Vilnius europäische Kulturhauptstadt wird, soll das „neue Zentrum“ fertig werden. Doch daran glaubt selbst Frau Matonienė von der Stadtverwaltung nicht mehr: „Die Häuser sind eben in Privatbesitz, da kann es nur Stück für Stück vorwärts gehen. Niemand weiß, wie lange das dauert.“Denn die Einwohner von Šnipiškės haben in den letzten Jahren dazugelernt in Sachen Marktwirtschaft. Maklerin Pelienė: „Einige haben schon vor ein paar Jahren zu niedrigen Preisen verkauft und ärgern sich jetzt. Einige verkaufen heute zu wirklich guten Preisen, um 860 Euro pro Quadratmeter.“ Einige spekulierten auf „viel zu hohe Preise“, das könne sie als Maklerin nicht unterstützen.Liubove Gardak, die in einer Eigentumswohnung am Rand von Šnipiškės direkt neben den Wolkenkratzern lebt, setzt auf steigende Preise. „Wir hoffen, dass ein internationaler Investor kommt, der mehr zahlt als die Litauer. Für einen guten Preis ziehe ich gerne aus“, stellt sie in Aussicht. Vor Bränden fürchte sie sich nicht, sagt sie lachend: „Mein Sohn hat eine Soldatenausbildung, und die Wohnung ist teuer versichert.“ Auch ein litauisch-russisches Ehepaar einen Straßenzug weiter pokert: Ihr Grundstück liege direkt an einer geplanten Hauptstraße. Sie zögen gerne um: „Für einen realen, guten Preis.“ Für 860 Euro pro Quadratmeter nicht.Alles eine Frage des Geldes? Für Algis M., zweifaches Opfer von Brandstiftung, ganz und gar nicht: „Meine Familie lebt seit 300 Jahren hier, das ist eine ganze Dynastie. Ich liebe die Vögel und die Ruhe hier.“ Ist die Zeit des dörflichen Lebens mitten in Vilnius endgültig vorüber? Eine Art Freilichtmuseum mit ausgewählten, historisch wertvollen Holzhäusern solle entstehen, erzählt Abteilungsleiterin Matonienė von den Plänen für das neue Šnipiškės: „Eine Straße mit Cafés, Restaurants, kleinen Geschäften.“ Können die Bewohner in diesen Häusern bleiben? „Darüber haben wir noch nicht nachgedacht. Wenn Sie ein Geschäft aufmachen möchten, vielleicht.“*** Ende ***--------------------------------------------------------------
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