Bulgarien

"Eins der größten Experimente der Weltgeschichte"

In seinem erfolgreichen Roman schildert Vladimir Zarev zwei gegensätzliche Schicksale im neuen Bulgarien, die exemplarisch für die Lage im gesamten ehemaligen Ostblock stehen.  Martin ist ein ehemals geachteter Autor, der sich nun mit Gelegenheitsjobs durchschlagen muss. Bojan dagegen machen die Wirren der neuen Zeit unglaublich reich. Jutta Sommerbauer hat Vladimir Zarev in Sofia getroffen und mit ihm über sein Buch und die unvollendete Transformation Bulgariens gesprochen.

Ist "Verfall" Ihre erste literarische Auseinandersetzung mit der Wende?

Ja. Ich habe lange Zeit damit gewartet, denn dafür ist zeitliche Distanz notwendig. Wenn man zu nah dran ist, sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich bin überzeugt, dass "Verfall" ein Buch über die Wahrheit unserer Wende ist: über die Art und Weise, auf die Bulgarien ausgeraubt wurde; darüber, wie gedankenlos die Anstrengungen einiger Generationen zerstört wurden - die Arbeit meiner Eltern, meiner Generation, und damit auch derer, die nach uns kommen.

Was ist während der Wende passiert?

Die politische Macht wurde von der ökonomischen Macht abgelöst. Die Wende ist eines der größten Experimente in der Weltgeschichte, so wie der Sozialismus ein großes, erfolgloses Experiment war. Ich interessiere mich für die Mechanismen, mit der die politische Klasse des früheren Systems an die ökonomische Macht gelangt ist. Die Ideologie wurde von Geld abgelöst - auf eine sehr grobe, abstoßende Art. Ein Großteil der Leute aus den staatlichen Diensten haben genau das vorbereitet: die Ablösung der politischen Macht durch die ökonomische Macht.

In Bulgarien ist Ihr Buch bereits in der 7. Auflage erschienen. Warum hat es Erfolg?

Das rührt wohl daher, dass jeder Bulgare einen Teil seines kleinen Lebens in ihm wieder finden kann. Ich interessiere mich nicht einfach für die großen Ereignisse der Wende, sondern schreibe über die Leute, die sie durchführten.

Einer der beiden Helden in "Verfall" ist ein Intellektueller, der scheitert. Wie haben die Intellektuellen die Transformation erlebt?

Sie wurden auf den Hinterhof unserer Gesellschaft geworfen. Die bulgarischen Intellektuellen waren wertvoll - das frühere politische System hat sie zwar nicht geliebt, aber es hat ihnen gewissermaßen den Hof gemacht, ihnen Bedingungen zur Verfügung gestellt. Nach der Wende wurde die Rolle der Intellektuellen geschwächt, man hat ihre Worte nicht länger beachtet. Das Wertesystem brach zusammen und mit ihm die Intellektuellen, denn sie waren an der Spitze des früheren Wertesystems. Es wurde mit Geld ausgetauscht.


Vladimir Zarev, Jahrgang 1947, wurde in Sofia geboren. Er gehört zu den bekanntesten zeitgenössischen Autoren Bulgariens. Zarev ist Herausgeber der literarischen Zeitschrift "Savremennik" ("Zeitgenosse") und ist Autor von insgesamt 16 Romanen, Erzählbänden und Sachbüchern. "Verfall" erschien 2003 in Bulgarien und ist mittlerweile in der 7. Auflage erhältlich.


Wer steht auf der Gewinnerseite des neuen Bulgarien?

Der ehrliche und fähige Mensch steht in Bulgarien momentan als Idiot da. Der, der klaut, gewalttätig und frech ist, ist der Held unserer Zeit. Er ist das Symbol der Transformation und wird von der Gesellschaft geachtet. Sie kennen sicher diese Kolonnen von dicken Autos, die auf unseren Straßen herumfahren. Das sind die früheren mutri - Schlägertypen. Mein zweiter Held ist ein solcher Mensch. Er beginnt allmählich zu verstehen, dass Geld Macht bedeutet, und Macht Freiheit. Er sagt: Das internationale Kapital hat Verstand. Der Mensch kann Geld verlieren, aber das Geld bleibt bestehen.

Sehen Sie denn keine positiven Entwicklungen?

Platon sagte in seinen "Dialogen", es gibt drei Möglichkeiten, Macht auszuüben: Tyrannenherrschaft, Oligarchie und Demokratie. Die produktivste Herrschaftsform ist Demokratie, aber nur, wenn die Gesetze für alle gelten. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist die Demokratie die Form der Machtausübung, die sich am leichtesten in Anarchie umwandelt. Die Tyrannei geht nur schwer in Anarchie über - wir haben das bis zu einem gewissen Grad selbst miterlebt. Seit 15 Jahren leben wir in Anarchie. Gleichzeitig sind auch viele schöne Sachen passiert - das will ich nicht bestreiten. Man kann frei sprechen und publizieren. Genau deshalb wundere ich mich, wieso die Angst zurückgekehrt ist. Vermutlich weil es nicht die Angst vor der Ideologie ist, sondern vor der Wirtschaft. Ich hatte meine Hoffnungen in das internationale Kapital gesetzt, denn es fordert Ordnung, Transparenz und Regeln. Ich habe gehofft, dass dieses Geld nach Bulgarien kommen und die Dinge ordnen wird. Nun hoffe ich, dass die klaren Mechanismen der EU auch bei uns gelten werden. Denn unsere politische Klasse möchte die Korruption nicht bekämpfen. Sie weiß sehr gut, wenn sie die Mafiosi außer Gefecht setzen - man könnte das innerhalb von ein, zwei Monaten tun -, wird sie kein Geld haben. Denn diese Leute bezahlen, damit sie weiter frei rumlaufen können.

Wie reagiert da die Bevölkerung?

Leider ist die Reaktion der normalen Leute minimal. Sie sind schon sehr erschöpft, besonders die älteren Leute oder die Leute in der Provinz. In Sofia gibt es zumindest Arbeit.
Der ökonomische Verfall - da kann Europa helfen, da beginnt sich langsam etwas zu entwickeln. Aber der geistige und moralische Verfall ist schlimm. Bulgarien hat eine Million junge und gut ausgebildete Menschen verloren, die in den Westen gegangen sind, weil ihnen hier nichts geboten wird. Ein Volk, das zu 90 Prozent arm ist, kann sich in gewisser Weise nicht frei fühlen.

Wenn Sie könnten, würden Sie die Zeit noch einmal zurückdrehen?

Die Veränderungen waren absolut notwendig, sind es noch immer. Es ist der richtige Weg. Aber wir legen ihn nur langsam zurück, mit großer Anstrengung und dem Verlust von menschlicher Energie. Zu Beginn war es wie ein Vulkan, ein Meer menschlicher Energie. Wenn man das in die richtige Richtung gebracht hätte, hätte man Wunder bewirken können - aber dazu kam es nicht.


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