Unbekannte Nachbarn
Die Donau, an der bulgarisch-rumänischen Grenze, bei Flusskilometer 793. Tenko Milev wirft die Angel aus und blickt missmutig übers Wasser auf die andere Seite - nach Rumänien. 59 Jahre ist er alt und arbeitslos, wie fast ein Viertel der Menschen in der strukturschwachen Region Vidin. Drüben, im rumänischen Calafat, ist die Situation ähnlich. Doch das weiß Tenko Milev nur vom Hörensagen. "Ich war noch nicht drüben. Vielleicht geht es ihnen besser, vielleicht schlechter, wer weiß das?"
Wie für Tenko Milev ist die andere Donauseite für viele Menschen in Vidin Terra Incognita - und umgekehrt. Eine Fähre verkehrt unregelmäßig zwischen den Ufern. Insgesamt gibt es nur eine einzige Brücke über die Donau, die immerhin fast 500 km der Grenze zwischen beiden Ländern ausmacht. Zwischen Vidin und Calafat soll eine zweite Brücke entstehen, doch die ist schon seit Jahren im Gespräch.
Donaufähre bei Vidin, wo die zweite Brücke zwischen den beiden Ländern gebaut werden soll. / Jutta Sommerbauer, n-ost
Fehlende Brücken zur anderen Seite - verwunderlich aber irgendwie symptomatisch für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern, meint Albena Shkodrova vom Balkan Investigative Reporting Network in Sofia. "Bulgarien und Rumänien sind ein wenig wie Laurel und Hardy - einer groß, einer klein, beide etwas seltsam und sich gegenseitig ständig im Weg stehend."
Sie beschäftigt sich schon seit langem mit den Beziehungen der Balkanländer untereinander. Bulgarien und Rumänien hätten fast nichts gemein außer ihrer sozialistischen Vergangenheit. Die ehemaligen sozialistischen Bruderstaaten - eine unechte, eine künstliche Freundschaft, so Albena Shodrova. Der rumänische Diktator Nicolae Ceausescu verfolgte eher eine Moskau kritische Position während Bulgarien unter Theodor Shivkov als Russlands treuester Partner galt.
Tatsächlich fühlte sich Rumänien mit seinen romanischen Wurzeln schon immer ein bisschen wie eine Insel im slawischen Meer. In den 80er Jahren beschuldigten sich beide Länder gegenseitig, mit ihrer an der Donau gelegenen Chemieindustrie die Umwelt zu verpesten. Nach der politischen Wende waren beide Länder gänzlich damit beschäftigt, die eigenen Probleme zu bewältigen - für Interesse am Nachbarn blieb keine Zeit. Auch das gemeinsame Ziel des EU-Beitritts schaffte eher eine Atmosphäre der Konkurrenz - zu groß war die Angst, hinter dem anderen zurückzufallen. Die Chancen einer Kooperation wurden erst spät erkannt. Seitdem gibt es zumindest auf politischer Ebene Austausch und Zusammenarbeit.
Doch die Menschen wissen nur wenig voneinander. Der bulgarische Geschäftsmann Emil Vutchev war sehr gespannt vor seinem ersten Treffen mit Rumänen vor drei Jahren. Denn er kannte wenig mehr als die alten Stereotype. Die lauteten: Rumänen sind sehr arm, sie stehlen. Überall gibt es Esel auf den Straßen. Wildes Autofahren. "Ich war dann sehr erstaunt, als ich am Telefon ein exzellentes Englisch hörte." Emil Vutchev traf auf sehr gebildete, international erfahrene, fortschrittliche Menschen. "Sie erzählten auch offen von ihren eigenen Ängsten, dass man ihnen in Bulgarien gleich hinter der Donaubrücke das Auto stehlen würde, dass wir alle Kriminelle wären." Sie hätten dann verstanden, dass Bulgaren und Rumänen denselben Lebensstil, dieselben Probleme haben - und eben dieselben Vorurteile übereinander.
Die Stereotype konnten sich so lange halten, weil weder Bulgaren noch Rumänen jeweils das andere Land bereisten und sich vom Gegenteil überzeugen konnten. Wer Geld hat, der fährt eben lieber nach Westeuropa. Und es hätte bislang einfach auch keinen Grund gegeben, den Nachbarn zu besuchen. 50 Euro kostete früher die Grenzgebühr - zu viel für die einfachen Leute, um eben mal so auf die andere Seite zu fahren. "Die Grenzregionen sind so arm, dass es keinen Austausch oder Handel gibt. Selbst wenn man den Fluss überquert - was soll man in so einer armen Region wie Vidin machen", fragt Albena Shkodrova.
Mittlerweile sind die Grenzgebühren abgeschafft, der Übergang ist frei. Die geplante Brücke zwischen Vidin und Calafat lässt auf beiden Seiten die Hoffnung wachsen: auf Investoren, auf einen wirtschaftlichen Aufschwung durch einen neuen Transportweg nach Westeuropa. Der EU-Beitritt - nicht nur die Hoffnung auf ein besseres Leben in beiden Ländern, sondern vielleicht auch der Anfang einer neuen Beziehung untereinander.