Russland

Kaluga statt Kanada

Schweizer Bauern wagen in Russland einen NeuanfangKaluga (n-ost) - Irgendwo hinter Towarkowo stehen die ersten Schilder am Straßenrand, selbst gebastelte Täfelchen mit dem weißen Kreuz auf rotem Grund. "Noch fünf Kilometer bis zur Schweiz", brummt Fahrer Igor hinterm Lenkrad seines Lada-Jeeps. Der tut hier gute Dienste, denn die Straße ist genauso löchrig wie ein Schweizer Käse.
Die Schweiz in Russland: ein Stall für 200 Kühe, eine Melkhalle, Schuppen und Werkstatt für Traktoren und ein kleines Gästehaus. Und das Wichtigste: die beiden Chefs, Hans Peter Michel, 43, aus dem Berner Oberland und Jakob Bänninger, 59, aus Winterthur. Die beiden Eidgenossen in den ölverschmierten Overalls sind kaum zu unterscheiden von ihren russischen Arbeitern, und wahrscheinlich liegt es daran, dass sie die ehemalige Sowchose unweit von Kaluga, 200 Kilometer südwestlich von Moskau, fest im Griff haben.Angefangen hat alles mit einer Leserreise. Der "Schweizer Bauer", eine Zeitung für Landwirte, hatte im Frühjahr 2003 zu einer Fahrt nach Russland eingeladen, um landwirtschaftliche Betriebe zu besuchen. Für Hans war es nicht der erste Kontakt mit Russland. Als Wehrpflichtiger hatte er Anfang der 80er Jahre Kriegsgefangene aus dem sowjetischen Afghanistan-Krieg bewacht, die vom Roten Halbmond für zwei Jahre in der Schweiz interniert wurden: "Da habe ich Freundschaften geschlossen und wollte das Land irgendwann einmal mit eigenen Augen sehen."
Silo mit Schweiz-Flagge. Foto: Christoph KerstingNach der Leserreise ging dann alles ziemlich schnell: Zu zweit fuhr man wieder nach Russland, schaute sich Betriebe an, die zum Verkauf standen - auch die ehemalige Sowchose, die schon damals "Schwejzarskoe Moloko - Schweizer Milch" hieß, weil eine Schweizer Stiftung schon seit den 90er Jahren in der Region aktiv ist.
Für rund 300.000 Euro kauften Hans und Jakob schließlich den Hof, weil die Fläche mit 350 Hektar übersichtlich und die Anlage verhältnismäßig gut in Schuss war. Dieselbe Summe steckten die beiden in neue Maschinen und Gebäude, unter anderem den neuen Stall. "Ich hatte in der Schweiz keine Wachstumsmöglichkeiten mehr mit einem 16-Hektar-Betrieb mitten im Dorf", blickt Hans zurück. "Außerdem fehlte nach 20 Jahren die Herausforderung."Zuerst fuhr er nach Brasilien, Kanada, Ungarn. "Da hätten wir aber wesentlich mehr Kapital gebraucht, um etwas Gleichwertiges zu kaufen." Hinzu kommt: Der russische Markt wächst wie kaum ein anderer, Arbeit ist ein billiger Faktor und Land in Hülle und Fülle zu haben.
Doch der Start in der russischen Provinz war für die Schweizer alles andere als einfach. Im ersten Jahr ging es nur darum die marode Technik auf Vordermann zu bringen. "Und dann die Skepsis der Einheimischen", erinnert sich Jakob. "Die waren von anderen Beispielen her gewohnt: Da kommen westliche Investoren, vernichten Arbeitsplätze und höhlen die Substanz eines Betriebes aus."Die Vorurteile haben Hans und Jakob inzwischen aus dem Weg geräumt. Statt Leute zu entlassen, haben die beiden zehn neue Arbeitsplätze geschaffen und viel Geld investiert. Trotzdem merken die Schweizer in Russland immer wieder, dass sie die Welt ihrer kleinen, penibel durchorganisierten Heimat gegen einen Lebensraum eingetauscht haben, der nach anderen soziokulturellen Regeln funktioniert. Eigenverantwortung bei der Arbeit oder die Bereitschaft, selbst nach Problemlösungen zu suchen - all das vermissen Hans und Jakob bei den meisten ihrer Arbeiter. Am schlimmsten sei es nach Feiertagen, da wisse man nie, wer zur Arbeit erscheint und wer nicht. Das liege auch am Alkohol, sagt Hans und erzählt schlimme Geschichten von jungen Arbeitern, die sich mit selbst gebranntem Schnaps tot gesoffen haben.
Hans bei der Arbeit im Stall. Foto: Christoph KerstingDie an Basis-Demokratie gewöhnten Eidgenossen erleben im Mikrokosmos der ehemaligen Sowchose genau das, woran ganz Russland 15 Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion krankt: Es gibt keine wirklich funktionierende Bürgergesellschaft, keinen Gemeinsinn, der auch einen Blick für die Probleme des Nachbarn hat. So, wie Wladimir Putin das Land mit harter Hand regiere, so verlangten auch die Arbeiter auf dem Hof nach Anweisungen von oben, berichten die beiden.Dass ein neuer Wind weht seit der Ankunft der Schweizer, damit haben viele der Russen tatsächlich noch immer ihre Probleme, erzählen auch die Melkerinnen Galja und Tamara bei der Arbeit im Stall. "Viele hier können ganz einfach nicht umgehen mit der Freiheit, die Hans und Jakob uns geben, trinken, bleiben weg von der Arbeit."Milch und Schweizer Käse verkaufen Hans und Jakob im 30 Kilometer entfernten Kaluga, einer schmucken, aufstrebenden Provinzhauptstadt mit 300.000 Einwohnern. VW will hier ab Mitte 2007 ein speziell für den russischen Markt entwickeltes Modell montieren.
Auch wenn sie sich mit ihren Produkten in der Region inzwischen einen Namen gemacht haben - noch zahlen die Schweizer nach Abzug von Löhnen und Betriebskosten drauf. Damit sich das ändert, wollen sie zukünftig auch den riesigen Moskauer Markt beliefern.Doch die beiden haben noch mehr vor als Viehwirtschaft und Käseherstellung. Im Sommer ist ein kleines Hotel mit zehn Zimmern fertig geworden, ohne jeden Luxus, aber gut ausgestattet mit einem kleinen Restaurant. "Wir denken an Leute, die einfach für einige Tage aus Moskau raus wollen", sagt Hans. Denen bietet die saftige, leicht hügelige Landschaft mit dem Lauf der urwüchsigen Ogra ein echtes Kontrastprogramm. Außerdem sind literarische Abende geplant, man ist mit Künstlern und Autoren aus Kaluga im Gespräch.Vor allem am Anfang war die Unterstützung des Schweizer Außenministeriums wichtig, das Hans und Jakob finanziell und organisatorisch zur Seite stand. Schon seit 15 Jahren gibt es diese schweizerisch-russische Kooperation auf dem Gebiet der Landwirtschaft. "Das ist ein einfache Rechnung: Die Schweiz hat sehr viel Know-How in der Landwirtschaft, und Russland bietet durch die Größe des Marktes sehr viele Möglichkeiten",  sagt Olivier Bürki, Chef des Schweizer Büros für Entwicklung und Zusammenarbeit in Moskau, der die Abwicklung von Betriebsübernahmen durch Ausländer als unkompliziert beschreibt. "da besteht von russischer Seite ein großes Interesse qualifizierte Leute ins Land zu holen."
Hans und seine Frau Julia. Foto: Christoph KerstingHans hat vor einigen Wochen geheiratet. Julia ist 26 Jahre alt, die beiden haben sich bei der Arbeit auf dem Hof kennen und lieben gelernt. Ein Ausländer, der wesentlich älter ist als die eigene Tochter und kaum russisch spricht - all das habe überhaupt keine Rolle gespielt, erinnert sich Hans an die herzliche Aufnahme in Julias Familie, die im Nachbarort wohnt.Vor allem diese ganz persönlichen Erfahrungen seien es, die Hans und ihn bei allen Widrigkeiten in der russischen Provinz halten, sagt Jakob "Ob wir hier alt werden? In Russland plant man nur von heute auf morgen, und das haben wir uns auch angewöhnt."Ende------------------------------------------------------------
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