Russland

Mitten durch den Krieg

Entlang der M29, jener Fernstraße die sich über 1200 Kilometer, ausgehend vom südrussischen Rostow am Don durch die nord-kaukasischen Republiken Kabardino-Balkarien, Nord-Ossetien, Inguschetien, Tschetschenien bis nach Dagestan zieht, hat jeder eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die stellvertretend für die Verzweiflung, Bitterkeit und das Trauma einer ganzen Region steht.

Rostow am Don (n-ost) - Trauer tragen die Plakate an der Wand. Übergroß, in roten Lettern, steht auf schwarzem Grund „Tschetschenien“ geschrieben. Eine Landkarte, übersät mit Kreuzen, berichtet stumm von einer Politik die unzählige Gesichter und Namen trägt. „Wenn Du für den Krieg stimmst, lege Geld zurück für das Begräbnis Deiner Kinder“, rät Walentina Melnikowa, Russlands streitbarste Frau im Komitee der Soldatenmütter. Fernab der Landesmetropole Moskau reist sie als Speerspitze im Kampf für mehr Menschlichkeit innerhalb der russischen Streitkräfte durch die Städte der Provinzen um Aufklärungsarbeit zu leisten und Eltern zu helfen, ihre verschollenen Soldatenkinder zu finden. „Unsere Soldaten sind nichts wert. Sie werden geschlagen, misshandelt, psychisch unter Druck gesetzt, ja sogar zum Suizid gezwungen. Das ist die herrschende Militär-Hierarchie.“

Entlang der M29, jener Fernstraße die sich über 1200 Kilometer, ausgehend vom südrussischen Rostow am Don durch die nord-kaukasischen Republiken Kabardino-Balkarien, Nord-Ossetien, Inguschetien, Tschetschenien und Dagestan zieht, hat jeder eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die stellvertretend für die Verzweiflung, Bitterkeit und das Trauma einer ganzen Region steht. An der M29 werden Lebenslinien zusammengeführt und das Zusammenspiel von Ursache und Wirkung in einem Konflikt sichtbar, der seit über einem Jahrzehnt blutig ausgetragen wird und auf allen Seiten Opfer hinterlässt. Von den russischen Gebieten und autonomen Republiken, die die Route der M29 queren, sind drei akute Krisengebiete und weitere zwei befinden sich im Kriegszustand.


Militärische Sicherung eines Kinderfestes in Beslan. Foto: Daniela Haußmann

Swetlana Loschkina erinnert sich nur zu gut an die Bilder aus Beslan, Naltschik oder Grosny. Die Frau aus Rostow hat ihren Sohn aus dem ersten Krieg in Tschetschenien zurückgeholt. „Zuerst musste er sich grün und blau schlagen lassen und dann wurde er auch noch in den Krieg geschickt, was er mir verschwieg“, berichtet die 68-Jährige. „Ich habe Mütter kennen gelernt, die nach Tschetschenien reisten und dort über ein Jahr lang nach ihren Söhnen suchten.“ Während der beiden Tschetschenienkriege hätten hunderte Container mit Leichen, nicht weit vom Militärkommissariat, in der Lermontowskaja Uliza 60, gestanden. Dort befand sich das Gerichtsmedizinische Gebäude Nummer Sechs in dem Kriegsopfer untersucht und identifiziert wurden. „Damals sind viele verzweifelte Mütter hierher gekommen um Gewissheit zu haben“, berichtet Svetlana Loschkina. „Vor sechs Jahren wurde das Gebäude geschlossen und die  Gerichtsmedizin nach Moskau verlegt. Doch so etwas vergisst niemand. Der Krieg in Tschetschenien ist mit seinen Auswirkungen allgegenwärtig und nicht nur er.“  Als Grenzgebiet zwischen verschiedenen Zivilisationen ist der Kaukasus ethnisch und  religiös bunt gemischt. Christentum, sunnitischer Islam, Protestantismus sowie heidnische Elemente finden sich unter den rund 50 Ethnien, die hier auf engstem Raum angesiedelt sind. Eine weitere Ursache für Spannungen entstand mit der Eroberung des Nordkaukasus durch Russland und der damit einhergehenden nationalstaatlichen Umstrukturierung der Region. Besonders starken Einfluss übte die Deportation der Kratschaier, Balkaren, Inguschen und Tschetschenen in den Jahren 1943 und 1944 nach Mittelasien aus. Sie wurden der Kollaboration mit den Deutschen während des Zweiten Weltkrieges beschuldigt. Gleichzeitig führte die Industrialisierung der Region zu einer Einwanderung europäischer Bevölkerungsgruppen in die Region. Diese Politik hatte zur Folge, dass die Russen mit einem Anteil von 67,7 Prozent zur zahlenmäßig stärksten Gruppe im Kaukasus wurden. „Der Konflikt in Tschetschenien ist nur einer unter vielen“, macht Swetlana Loschkina deutlich. „Was wir brauchen ist eine politische Lösung im Nord-Kaukasus. Keine mit Waffen und Menschenmaterial. Mit den Tschetschenen hätte die russische Regierung verhandeln sollen, als es noch möglich war. Doch jetzt ist der Faden der Verständigung durchtrennt. Eine friedliche Lösung nicht mehr in Sicht und unsere Kinder müssen für eine Politik der Verhärtung  in den Kampf ziehen.“Entlang der schneebedeckten kaukasischen Riesen liegen die Mineralbäder des Kurortes Pijatigorsk. Nach wie vor pilgern die Touristen aus der Russischen Förderation in die Stadt, die durch den Lyriker Michail Lermontow bekannt wurde. Ein Bild des Friedens. Doch nur etwas mehr als eine Stunde Fahrt ist Naltschik entfernt. Seit 1928 ebenfalls ein weithin bekannter Kurort. Doch wegen der Kämpfe zwischen Mitgliedern der Islamisten-Gruppe Jarmuk, einem Ableger der tschetschenischen Rebellen in Kabardino-Balkarien, und den ansässigen russischen Sicherheitskräften kommen hier keine Besucher mehr her. „Vom Tourismus kann in der Kaukasus-Republik kaum noch jemand leben“, so Natalia Zinkowskaja, im dortigen Büro der Menschenrechtsorganisation „Memorial“. „Die Arbeitslosenrate von 30 Prozent spricht für sich.“ Zwischen allen Stühlen sitzen die Flüchtlinge, die aufgrund der vielen Kriege durch den Kaukasus irren. Nirgendwo sind sie erwünscht, nicht in Rostow am Don, wo sich derzeit rund 15.000 Tschetschenen aufhalten und auch nicht in Naltschik, wo ihre Zahl auf 3000 geschätzt wird. „Was wollt ihr hier, geht dahin zurück wo ihr hergekommen seid“, lauten die Sätze, mit denen Cheda Mitrischawa und Malika Saikawa unaufhörlich konfrontiert werden. Die beiden Tschetscheninnen leben im inguschischen Karabulak in einem Flüchtlingslager. Dort wo die M29 geradewegs nach Tschetschenien führt und sich kein ossetischer Taxifahrer findet, der die Grenze zur Nachbarrepublik überquert. Achmet Israilowitsch ist Ingusche, auch er ist als Flüchtling Opfer eines ethnischen Konfliktes, diesmal zwischen Inguschen und Ossetiern. Er haust heute in einer mit Kartonagen isolierten Holzhütte. „Von Russland erwarten wir schon lange nichts mehr“, sagt er verächtlich. „Die Russen interessiert es nicht, ob wir hier Strom haben und Wasser. Sie stellen es uns ab. Russland hat kein Interesse an Menschen wie uns. Mit Waffengewalt versuchen sie uns am Boden zu halten, doch das gelingt ihnen nicht. Das einzige was ihnen bleibt ist uns ausbluten zu lassen, uns die Lebensgrundlage zu entziehen. Man muss nur sehen, wie die Russen mit ihren eigenen Soldaten umgehen, dann kann man erahnen, wie sie in Tschetschenien und anderen Gebieten, an denen sie ein Interesse haben, vorgehen.“

Für Israilowitsch ist Russlands Politik im Kaukasus ein Hinauszögern des Unausweichlichen. Der Loslösung des Kaukasus aus der „chauvinistischen Umklammerung“, wie er es nennt.  „Unsere Kinder haben keine Zukunft. Es gibt keine Arbeitsplätze, die Gesetze werden mit Füßen getreten, die Kriminalität steigt und eine soziale Absicherung gibt es nicht“, beschreibt er jene Situation, in der die Menschen im Kaukasus gefangen seien.Gefangen sind auch die Menschen in der nord-ossetischen Stadt Beslan. Über zwei Jahre nach der Tragödie in der Schule Nummer Eins begleiten die Bilder ermordeter Schulkinder die Einwohner noch immer durch den Tag und die Nacht. „Beslan ist eine Stadt im permanenten Ausnahmezustand“, sagt Sergej Basajew, Leiter der Caritas in Wladikawkas. „Gerüchte versetzen die  Menschen in Panik. Die Angst vor einem neuen Angriff lässt keinen mehr los.“ Sicherheitskräfte schützen mit Waffen seit jenem 1. September 2004 größere Feste für Kinder. Ein psycho-soziales Programm soll helfen, die Erlebnisse zu verarbeiten. Das Schicksal von Cheda Mitrischawa und Malika Saikawa heißt nicht Beslan sondern Grosny, jene Hauptstadt von Tschetschenien, die in aller Welt für die menschliche Katastrophe schlechthin steht. Cheda Mitrischawa sucht seit fünf Jahren ihren Sohn, der in Grosny verhaftet wurde. „In Tschetschenien verschwinden permanent Leute. Keiner gibt Auskunft, keiner hilft. Ich habe gewartet, ihn gesucht. Nur die Hoffnung, dass er eines Tages wiederkommt hält mich noch am Leben.“ Malika Saikawa, deren Tochter im Alter von sechs Jahren im zweiten Tschetschenienkrieg ein Bein verlor, kann ihr nachfühlen. „Eine Granate schlug ein. Mein Mann starb, Madina überlebte schwer verletzt“, ruft sie sich die Bilder des Terrors zurück. „In Grosny erhielt sie eine Feldoperation. Um eine Prothese zu bekommen mussten wir nach Wladikawkas in die Klinik.“ Traumatisch haben sich den Frauen die Bilder des Krieges eingeprägt. „Es war schlimm, als Soldaten und Zivilisten fielen und die Leichen nicht begraben wurden“, erzählt Cheda Mitrischawa. „Irgendwann hatten die Hunde Hunger, weil das Essen nicht einmal für die Menschen reichte. Sie wurden aggressiv und machten sich an den Überresten der Gefallenen zu schaffen. Der Schnee, den wir im Winter schmolzen um Trinkwasser zu haben, war schwarz.“„Überall im nördlichen Kaukasus ist es dasselbe“, klagt Sergej Basajew von Caritas International schon fast resigniert. „Die Menschen wissen, dass die Geschehnisse nicht gegeneinander aufgerechnet und ein ganzes Volk dafür verantwortlich gemacht werden kann. Der Verstand sagt ihnen, dass es an den Regierungen liegt“, ergänzt der Nord-Ossete mit fester Stimme.  „Aber es ist zuviel passiert und  das Herz spricht eine andere Sprache.“

Ende
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