Bulgarien

Bürger zweiter Klasse

Zwischen den Wohnblöcken türmen sich Müllberge, Kinder spielen inmitten der verwilderten Szenerie. In Cafes schlagen Männer den Nachmittag mit Bieren tot, Frauen sitzen am Straßenrand in Grüppchen zusammen. An Zeit scheint es in Stolipinovo nicht zu mangeln, an Raum schon. Das Viertel in Bulgariens zweitgrößter Stadt Plovdiv platzt aus allen Nähten. Hier leben 40.000 Menschen, und fast alle davon sind Roma.

Im Sommer schaffte es Stolipinovo wieder einmal in die Schlagzeilen der bulgarischen Medien – wie so oft war der Anlass wenig erfreulich. Eine Hepatitis-A-Epidemie war im Bezirk ausgebrochen, in den vergangenen vier Monaten haben sich in Stolipinovo über 1000 Menschen mit der Krankheit infiziert. Angesichts der hygienischen Bedingungen im Viertel sei das wenig verwunderlich, sagt Atanaska Turijska und deutet auf einen achtstöckigen Wohnblock. „Fließendes Wasser gibt es nur bis zur zweiten Etage“, erklärt die Mitarbeiterin der Stadtteilorganisation „Roma“. „Um Trinkwasser zu bekommen, müssen die Leute ins Freie gehen.“ Auch um die Kanalisation und Stromversorgung stehe es schlecht. „Eigentlich müsste man das ganze Viertel abreißen“, so ihre drastische Schlussfolgerung.


Auch nach dem EU-Beitritt Bulgariens werde sich die Lage der Roma nicht über Nacht ändern, sind die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in Stolipinovo überzeugt. / Jutta Sommerbauer, n-ost

„Ghetto“ – unter diesem Namen ist Stolipinovo in Plovdiv bekannt. Kaum ein Bulgare setzt seinen Fuß freiwillig in das Viertel. Gerade die räumliche Ausgrenzung verstärkt viele der sozialen Probleme der Roma-Minderheit.1570 Kinder besuchen die hiesige Grundschule „Pencho Slavejkov“ – sie alle stammen aus Roma-Familien. „Unsere Kinder kommen an die Schule ohne ein Wort Bulgarisch zu können“, erklärt die pädagogische Beraterin Mari Schtereva. „In den Familien wird nur Türkisch oder Romanes gesprochen.“ Mittlerweile besuchen die Kinder Vorschulklassen, in denen sie Bulgarisch lernen. Dennoch ist das Unterrichtsniveau niedrig, die Schule in einem armseligen Zustand. Ein weiteres Problem seien die frühen Schwangerschaften bei den Mädchen, so Schtereva. „Etwa bis zur 6. Klasse gehen die Kinder regelmäßig in die Schule, dann fällt eines nach dem anderen raus.“ Häufig mangele es den Eltern am Bewusstsein, ihren Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen. „Oft haben sie auch einfach kein Geld, um Schulbücher zu kaufen“, so Schtereva.

 
Eine Ausnahme im Ghetto: Der 29-jährige Assen Karagjozov. / Jutta Sommerbauer, n-ost

Die bulgarischen Roma – laut Schätzungen zwischen 370.000 und 850.000 Menschen – waren auf die Wende von 1989 denkbar schlecht vorbereitet. Schon im Sozialismus hatten sie einen niedrigen sozialen Status. Roma arbeiteten vor allem als ungeschulte Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Industrie. Nach dem Niedergang der Planwirtschaft verschlechterte sich ihre Situation drastisch: Viele wurden arbeitslos, sie zogen in Städte, an deren Rändern Elendssiedlungen entstanden. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt die Arbeitslosenrate der bulgarischen Roma auf 40 bis 80 Prozent, die Zahl der Analphabeten soll zwischen zwölf und 29 Prozent liegen.

Assen Karagjozov ist das, was man eine Ausnahme nennt. Der 29-Jährige, adrett in einem schwarzen Anzug gekleidet, ist Vorsitzender des Jugendclubs Stolipinovo. Er sei immer schon der Meinungsführer in seinem Freundeskreis gewesen, erzählt er. „Heute erkläre ich den jungen Leuten, wie sie sich bei Bewerbungsgesprächen verhalten sollen.“ Assen bildete sich weiter, besuchte Trainings. Leute wie er haben eine wichtige Vorbildfunktion für eine Gemeinschaft, die über wenige „Aushängeschilder“ verfügt.

Auch nach dem EU-Beitritt Bulgariens werde sich die Lage der Roma nicht über Nacht ändern, sind die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in Stolipinovo überzeugt. Zu viele Probleme haben sich in den Jahren nach der Wende angehäuft. Die bulgarischen Behörden hätten erst spät auf das zivilgesellschaftliche Engagement reagiert, so Atanaska Turijska. Selbst heute fände vieles nur pro forma statt. „Einige der Initiativen ereignen sich nur wegen der EU. Programme und Strategien werden geschrieben, aber das Geld gibt es nicht oder es erreicht die Leute nicht.

Immerhin sind einige der Sozialinitiativen mittlerweile vom Staat übernommen geworden: „Zweite Chance“, ein Programm, mit dem Erwachsenen ihren Schulabschluss nachholen können, um bessere Chancen am Arbeitsmarkt zu haben, wird heute von bulgarischen Behörden finanziert – und nicht mehr von ausländischen Stiftungen. In vielen Städten werden Roma-Kinder mit Bussen an „bulgarische“ Schulen gefahren – damit sie eine gleichwertige Schulbildung erhalten können. „Die Folgen dieser Programme werden wir erst in zehn bis 15 Jahren spüren“, meint NGO-Mitarbeiterin Turijska. „Dann, wenn die heutige junge Generation erwachsen ist und selbst Kinder hat.


Weitere Artikel