"Ein letzter weißer Fleck auf der Landkarte" / Interview mit Volker Schlöndorff
Eine Frage vorweg, Herr Schlöndorff, kennen Sie „Borat“?
SCHLÖNDORFF: Nein, leider nicht! Derzeit fragen mich alle danach. Ich weiß nicht einmal, wer das ist. Ist das nicht dieser Schauspieler, der auch Mr. Bean gespielt hat? ... Nein, ich kann gar nichts dazu sagen.
Was ist der Stoff Ihres neuen Films?
SCHLÖNDORFF: Ein junger Franzose kommt nach Kasachstan auf der Flucht vor einer Familientragödie. Er will zum Berg Khan Tengri, wo früher die Schamanen zum Sterben hinzogen. Und das ist auch sein Ziel, der Tod. Sein Auto bricht zusammen, er geht zu Fuß weiter, Tausende von Kilometern. Schließlich kauft er ein Pferd. Die Besitzerin des Pferdes, eine junge Nomadin und Lehrerin, folgt ihm, um darauf zu achten, dass er ihr Pferd nicht schindet. Sie wird sein unfreiwilliger Schutzengel. Er schickt sie weg, trotzdem kommt sie immer wieder, um ihn aus verzwickten Situationen zu retten. Und letztlich retten ihn die Erfahrungen, die er bei der Wanderschaft macht, vor dem Tod. Er kehrt zum Leben zurück.
Wer spielt die Hauptrollen?
SCHLÖNDORFF: Den Franzosen spielt Philippe Torreton. Er ist genau das Gegenteil von einem Esoteriker, eher ein bretonischer Fischer, der den schwülstigen New-Age-Überbau eliminiert. Die Frau, die ihm folgt, ist Ajanat Ksenbai, eine junge Kasachin mit einer unheimlichen Präsenz. Im Film ist sie eine ganz normale Person, aber sie ist auch eine Projektionsfläche für uns Westler – eine Nomadin, eine orientalische Schönheit wie Gong Li. Außerdem gibt es einen Vagabunden, einen Outcast, der direkt aus der Dennis-Hopper-Tradition kommt. David Bennent, der Hauptdarsteller aus der „Blechtrommel“. Er spielt den Sohn eines Schamanen und einer Deutschen. Es ist einer, der durch alle Raster gefallen ist, der ein Dichterdissident zur Zeit der Sowjets war, aber auch den Anschluss an den Turbokapitalismus nicht geschafft hat.
Woher kommt der Titel „Ulzhan“?
SCHLÖNDORFF: Die junge Frau gibt dem Film den Namen. Ulzhan war der Name der Mutter von Abai, dem kasachischen Nationaldichter. Er wird hier sehr verehrt, kaum einer hat ihn aber gelesen, denn er war sehr kritisch den Kasachen gegenüber. Abai hat übrigens auch Goethe ins Kasachische übersetzt. Und dieser Abai mit seinen Gedichten ist der Reisebegleiter des Helden.
Wie ist das Drehbuch zustande gekommen?
SCHLÖNDORFF: Jean-Claude Carriere, der mit mir auch schon „Die Blechtrommel“ und den Swann-Film nach Proust gemacht hat, kam vor zwei Jahren zum Eurasia-Filmfestival nach Almaty. Er begann, sich für das Land zu interessieren, hat hier ein paar Wochen verbracht und mir dann eine Vorlage von fünf-sechs Seiten gezeigt. Vor einem Jahr bin ich selbst hergekommen und herumgereist. Ich habe ein paar markante Punkte herausgesucht, es Jean-Claude Carriere erzählt und so hat sich in der Zusammenarbeit das Drehbuch entwickelt.
Wieso haben Sie ausgerechnet Kasachstan als Drehort gewählt?
SCHLÖNDORFF: Kasachstan als Staatsgebilde, war uns gar nicht so wichtig, eher Zentralasien. Es hätte auch Kirgistan, Turkmenistan oder die Mongolei sein können, also ein leeres Land. Aber es ist vielleicht der letzte weiße Fleck auf unserer mentalen Landkarte. Die wenigsten wissen, dass Kasachstan so groß ist wie Indien, aber nur 15 Millionen Einwohner hat und nicht eine Milliarde. Kasachstan ist unheimlich reich durch seine Bodenschätze. Man sagt, es wird das nächste Dubai und ist deshalb so etwas wie ein Sinnbild für Globalisierung und dafür, wie plötzlich ein Land aus dem Nichts in Bewusstsein geschossen wird. Und es gibt hier eben auch Platz und Raum, um sich zu verlaufen und um sich selbst zu finden. Der Film ist keine Reportage, die Landschaft spiegelt eigentlich nur das Innenleben des Helden wider, in der romantischen Tradition des 19. Jahrhunderts.
Der Film ist eine deutsch-französisch-kasachische Ko-Produktion. Kazakhfilm steht in der Tradition von Mosfilm. Welche konkreten Erfahrungen haben Sie mit der kasachischen Filmindustrie gemacht?
SCHLÖNDORFF: Das ist wie mit Babelsberg. Kazakhfilm hat eine große Vergangenheit, die liegt 60 Jahre oder noch mehr zurück. Hier hat Eisenstein „Iwan, der Schreckliche“ gedreht hat, als die Deutschen vor den Toren Moskaus standen. Von dieser Tradition ist heute nichts mehr zu spüren. Kazakhfilm ist ein toter Dinosaurier, eines von diesen staatlichen Filmstudios, die heute nicht mehr funktionieren können und die von ihren besten Mitarbeitern längst verlassen worden sind. Und sie sind ungeeignet für ein Roadmovie und ein Team, das klein und flexibel sein muss. Große Studios sind heute für’s Fernsehen, und Filme werden ohne große Studios gemacht. Kazakhfilm hat aber ungefähr ein Drittel der Kosten übernommen. Und die Schauspieler waren hervorragend, auch in den kleinen Rollen. Sie sind hier unverdorben, direkt. Und sie haben eine Kraft, eine Vitalität, die man eben in so einem Land noch vorfindet, und die bei uns abgeschliffen ist.
Können die Kasachen Filme machen?
SCHLÖNDORFF: Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe vielleicht ein Dutzend kasachische Filme gesehen, und da sind sehr schöne dabei von jungen Filmemachern. Und für die Zukunft? Die Kasachen werden sich besinnen, ob sie aus diesem Reichtum, den sie an Landschaften haben, etwas machen können. Dass ausländische Produzenten herkommen. das ist die letzte meiner Sorgen. Ich würde mich freuen, wenn die Kasachen selbst Filme machen würden. Dazu braucht man kein Studio, dazu braucht man nur offene Augen und eine Kamera.
Würden Sie Ihren Film auch als Reise-Tipp betrachten?
SCHLÖNDORFF: Ja, schon. Obwohl die Drehorte nicht unbedingt die Orte sind, an die ein normaler Tourist kommt. Der Filmheld beispielsweise übernachtet in einem verfallenen Gebäude, bis eine Reisebekanntschaft ihn aufklärt, dass das ein Gulag war. Er kommt in riesige Kolchosen, wo Hunderte von riesigen Mähdreschern vor sich hinrosten, die früher einmal der Stolz einer LPG waren. Inzwischen steht aber alles still, es sind die Ruinen eines Imperiums, des Sowjetimperiums, über die er stürzt. Er trifft auf die Ruinen des Polygons in der Gegend bei Semipalatinsk, wo die Russen fast 500 Atombomben getestet haben. Er findet Zuflucht in frühchristlichen Höhlen am Kaspischen Meer. Also es sind Orte, die immer wieder mit Geschichte zu tun haben, und die Reise folgt einer gewissen geographischen Logik. Insofern zeigt der Film schon ein Stück von Kasachstan.
Haben Sie einen ähnlichen metaphysischen Erkenntnisgewinn während der Dreharbeiten durchgemacht wie Ihr Filmheld?
SCHLÖNDORFF: Lacht. Unser Erkenntnisgewinn ist eher der umgekehrte gewesen. Wir hatten sehr große Schwierigkeiten, den Film zu drehen. Aber meine Beziehung zu Kasachstan ist die, dass ich ein Jahr lang an dem Sujet gearbeitet habe. Das hinterlässt natürlich Spuren. Wir sind jetzt am vorletzten Drehtag, da ist man erleichtert, dass die Probleme, die wir vor allem mit der Logistik hatten, vorbei sind. Andererseits fühlt man sich dem Land, in das man sehr eingedrungen ist, aber auch verbunden.