Deutschland

Leben in einer Parallelwelt

Sinti und Roma sind in allen EU-Ländern zu Hause, sie prägen seit hunderten Jahren die Kultur ihrer Heimatländer und werden von ihr geprägt. Doch sind ihre Lebensbedingungen oft schlechter als die der Mehrheitsgesellschaft.

Sinti und Roma sind die größte Minderheit in der Europäischen Union. Mit schätzungsweise acht bis zehn Millionen Menschen ist ihre Zahl vergleichbar mit den Einwohnerzahlen Belgiens, Portugals oder Tschechiens. Präzise demografische Daten gibt es jedoch nicht: In einigen Ländern werden ethnische Angaben in der Bevölkerungsstatistik nicht erfasst,  außerdem geben nicht alle ihre Ethnie an - aus unterschiedlichen Gründen; andere wiederum sind gar nicht registriert.

Knapp drei Viertel der Roma in der EU leben in den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie auf dem Balkan.  In der Slowakei werden rund 10 % der Bevölkerung den Roma zugerechnet, in Bulgarien 8%, in Rumänien 6% und in Ungarn 5%.

Seit mehr als 600 Jahren Teil der europäischen Kultur

Sinti und Roma leben seit über 600 Jahren in Europa, in unabhängigen Gruppen gelangten sie aus dem Nordwesten Indiens auf verschiedenen Routen nach Mittel- und Osteuropa bzw. nach Westeuropa. Ihre Nachfahren im deutschen Sprachraum  nennen sich Sinti, während die Bevölkerungsgruppe in Mittel- und Osteuropa als Roma bezeichnet wird. Außerhalb des deutschsprachigen Raumes wird oft die gesamte Community unter der Bezeichnung Roma subsumiert. Im 19. Jahrhundert gab es eine weitere Migrationswelle, Roma aus Südosteuropa wanderten in Westeuropa ein.

Bereits dieser kurze Überblick, der im Detail viele einzelnen Gruppen, Wege, Stationen und Schicksale einschließt, lässt ahnen, wie divers die Community ist. Weder außerhalb noch innerhalb einzelner Nationalstaaten bildet sie eine Einheit, vielfältige Untergruppen grenzen sich einerseits gegenüber den „Nicht-Roma“, von ihnen Gadje genannt, andererseits untereinander ab. Über Jahrhunderte wurden sie von den Sprachen, der Kultur und der Konfession ihrer jeweiligen Heimatländer beeinflusst. Darüber hinaus definieren sich Roma-Gruppen oft anhand traditionell ausgeübter Berufe wie Schmied, Korbmacher oder Musiker, die innerhalb von Clans über Generationen weitergegeben wurden.

Am Rand der Gesellschaft

Die Lebenswelt vieler Roma unterscheidet sich bis heute erheblich von der der Mehrheitsgesellschaft ihrer Heimatländer. Laut einer Studie der Europäischen Grundrechteagentur (FRA) von 2009 lebt die Hälfte von ihnen in separaten Roma-Vierteln und hat kaum Kontakte zur Mehrheitsbevölkerung. Ihre Teilhabe am öffentlichen Leben, an Bildung und den sozialen Errungenschaften ist beschränkt, die Lebenserwartung liegt fast überall durchschnittlich 10 bis 15 Jahre unter der der Mehrheitsbevölkerung. Vielerorts haben sie es schwer, ihre Existenz zu sichern – einerseits fehlt es an entsprechender Ausbildung, andererseits werden sie auf dem Arbeitsmarkt oft allein wegen ihrer ethnischen Herkunft ausgeschlossen.

Roma sind die am stärksten diskriminierte Minderheit in der EU, stellte die FRA-Studie 2009 fest. Jeder zweite der befragten Roma wurde im vergangenen Jahr Opfer von Diskriminierungen. Im Schnitt erlebte jeder davon 11 diskriminierende Vorfälle – aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit oder seines Migrationshintergrundes.  In vielen Ländern wurden Roma Opfer rassistischer Hetzereien und Bedrohungen bis hin zu schweren tätlichen Angriffen. Vorurteile und antiziganistische Klischees werden bis heute verwendet, um  beispielsweise Forderungen nach Ausschluss und Abschiebung zu erheben.

Verlierer der Wende


„Die Roma sind die wahren Verlierer der Wende,“ sagt die ungarische Journalistin und Roma-Expertin Judith Klein. Sie seien die ersten, die entlassen wurden. Gab es zu Zeiten des Sozialismus beispielsweise noch Busse, die sie in die Betriebe der Umgebung brachten, sind ihre Dörfer heute abgeschnitten. Hohe Arbeitslosigkeit, Verarmung und Abhängigkeit von der Sozialhilfe sind die Folgen. Auch das Bildungsniveau unter den Roma hat sich in den mittel- und osteuropäischen Ländern nach der Wende drastisch verschlechtert.

In vielen Städten wurden die Roma aus den Zentren herausgedrängt und in gesonderten Siedlungen am Ortsrand untergebracht. Ein Beispiel dafür ist die tschechische Siedlung Janov, in deren Hochhäusern 2.000 Roma wohnen. 2008 demonstrierten Rechtsradikale gegen die Roma in Janov, seitdem kontrolliert die Polizei verschärft das Viertel. Integrationsbemühungen seitens staatlicher Organe gibt es hingegen kaum.

Vertreibung und Abschiebung


In verschiedenen Regionen Europas wurden und werden Roma aus ihren Häusern vertrieben oder umgesiedelt, teilweise sogar mehrmals in ihrem Leben. So richteten sich beispielsweise in den 1990er Jahren während der Bürgerkriege im zerfallenden Jugoslawien auch massive Aggressionen gegen die Romabevölkerung und machte sie zu Opfern von Gewalt, Zerstörung und Vertreibung. Viele südosteuropäische Roma flüchteten nach West- und Mitteleuropa.

In Deutschland leben aktuell etwa 23.000 Roma aus dem Kosovo, durchschnittlich seit mehr als 14 Jahren. Im April 2010 unterzeichneten Innenminister de Maizière und sein kosovarischer Kollege Rexhepi ein Rückführungsabkommen für "ausreisepflichtige Personen". 12.000 kosovarische Roma sind von Abschiebung bedroht oder bereits abgeschoben in ein Land, in dem sich ihre Lebensbedingungen drastisch verschlechtern.

Fast die Hälfte von ihnen sind laut Unicef Kinder und Jugendliche, die in Deutschland aufwuchsen. Im Kosovo haben sie kaum eine Perspektive auf Schulbildung, medizinische Versorgung und gesellschaftliche Integration. Drei Viertel der Schüler aus Deutschland gehen im Kosovo nicht mehr zur Schule. „Die Roma im Kosovo sind die ärmste Volksgruppe im ärmsten Land Südosteuropas. Armut bedeutet soziales Abseits,“ beschreibt Johannes Wedenig, Unicef-Leiter im Kosovo, ihre Perspektiven.

Für eine bessere Zukunft

In zwölf Ländern der EU gibt es nationale Programme, die speziell die Eingliederung der Roma, ihre soziale Lage und insbesondere ihre Bildungschancen verbessern sollen. Ein Großteil der Mittel dafür kommt aus dem EU-Sozialfonds, der generell für benachteiligte Bevölkerungsgruppen bestimmt ist. Einen eigenen Haushaltstitel speziell für Sinti und Roma gibt es in Brüssel nicht.

Um die Situation der Sinti und Roma nachhaltig zu verbessern, sind umfassende und vor allem dauerhafte Programme nötig, die nicht nur punktuell unterstützen. Bestenfalls umfassen sie Bildung, Arbeitsplätze, Gesundheitsversorgung und Unterkünfte – aufgrund der Komplexität und der Kosten ist das schwer zu realisieren. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist, die Roma-Organisationen vor Ort zu stärken. Initiativen aus der Community, die auf Kultur, Bildung und regelmäßiges Einkommen zielen, zeigen die Richtung. 

Dieser Text ist dank einer Förderung der Allianz Kulturstiftung entstanden.

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