Russland

Alkohol-Vergiftungswelle breitet sich aus

Behörden sind mitschuldig an massenhafter Nutzung von gepanschtem WodkaMoskau (n-ost) – Das Ausmaß der aktuellen Vergiftungswelle ist selbst im leidgeprüften Russland sensationell: Bereits in 15 Regionen Russlands erkrankten oder starben Menschen zu hunderten an gepanschtem Alkohol. Die russische Online-Nachrichtenagentur lenta.ru listete zum vergangenen Wochenende insgesamt 3425 Vergiftungsopfer auf. 151 davon seien an toxischer Gelbsucht gestorben. Die Zahl der Opfer steigt weiter: In der Montags-Ausgabe der regierungskritische Zeitung „Nowaja Gazeta“ ist bereits von über 5 000 Vergifteten die Rede.In den russischen Regionen Wladimir (nahe Moskau), Pskow (Grenzregion zu Estland und Lettland) und Irkutsk (Sibirien) wurde der Ausnahmezustand ausgerufen.
In diesen Gebieten gelangte mit technischem Alkohol gepanschter Wodka in den Umlauf. Während der für den Eigenverbrauch gedachte „Samogon“ (Selbstgebrannte) in der Regel qualitativ hochwertiger Alkohol ist, gilt das für den in den Verkauf gebrachten Sprit nur eingeschränkt. Die Polizei nahm bereits erste Verdächtige fest, doch der giftige Alkohol kursiert immer noch in den Regionen.Nach Angaben des russischen Innenministeriums sterben pro Jahr etwa 42 000 Menschen an gepanschtem Alkohol. Zum Vergleich werden bei Verkehrsunfällen in Russland jährlich 35 000 Menschen getötet, wobei der Alkohol auch hier im Spiel ist.
Die Vergiftungswelle hat auch Nachbarländer erreicht: Im lettischen Grenzbezirk Preilu gab es bereits 60 Vergiftungsfälle, zwei davon endeten tödlich.
Alkohol-Verbotsschild aus St. Petersburg, Fotograf: Andreas Metz

Seit März  zogen die russischen Lebensmittelprüfer 170.000 Liter Fusel-Wodka aus dem Verkehr. Doch für ein Land, das offiziell jährlich 1,3 Milliarden Liter Alkohol produziert und inoffiziell wohl noch einmal so viel, ist dies viel zu wenig.Der russische Vizepremier Dmitri Medwedew zeigte sich entsetzt über die jüngsten Todesfälle und forderte einen verstärkten Kampf gegen gepanschten Alkohol. Doch die jüngste Vergiftungswelle geht auch auf staatliche Schlamperei zurück. Dies hängt mit der Einführungen eines einheitlichen staatlichen Datensystems für die Alkoholerfassung (EGAIS) zusammen, das nur fehlerhaft funktioniert. Probleme mit der EGAIS-Software hinderten viele Produzenten daran, ihre Erzeugnisse in den Verkauf zu bringen. Aus diesem Grund müssen die legalen Alkoholhersteller ihre Produktion verringern. Allein die Moskauer Brennerei „Kristall“ musste die Produktion seit Anfang Juli um mehr als 90 Prozent reduzieren. Dieses wurde noch durch den „Weinkrieg“ mit Georgien und Moldawien verschärft, die Russland unter dem Vorwand, die Weine seien mit Schadstoffen belastet, von der Liste der Importeure strich und so für eine eigenständige Außenpolitik abstrafte.Den Alkoholmangel in den Geschäften gleichen viele Russen durch „Samogon“, gepantschtem Wodka und industriellen alkoholhaltigen Flüssigkeiten aus.
Bereits im Juli warnte der russische Landwirtschaftsminister Alexej Gordejew daher davor, dass die Unvollkommenheit des EGAIS-Systems zu einem kolossalen Anstieg des illegalen Alkoholumsatzes geführt habe. Bereits Ende der 80er Jahre scheiterte der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Michail Gorbatschow, mit dem Versuch, den Alkoholverkauf in Russland zu beschränken. Damals blühten illegale Herstellung und Verkauf von Spirituosen auf. Finanzielle Verluste für die sowjetische Wirtschaft und viele Alkoholvergiftete waren die Folge. Auch die im vergangenen Jahr von Präsident Wladimir Putin lancierte Kampagne zur Erhöhung der staatlichen Kontrolle über den Alkoholmarkt erweist sich nun als Bumerang. Am Dienstag kündigte die russische Regierung nun die Reform des EGAIS-Systems an.Die Zahl der Alkoholiker in Russland wuchs nach Angaben des Gesundheitsministeriums in den letzten sechs Jahren um 15 Prozent und liegt nun bei zwei Millionen. Studien aus Russland gingen bisher von einem Verbrauch von 15–16 Liter Reinalkohol pro Kopf (Bürger ab 15 Jahren) aus, wobei offizielle Statistisken um ein Drittel niedriger liegen. Für diese Differenz sollen große Mengen von illegal produziertem Alkohol verantwortlich sein. In den Medien wurden zuletzt sogar von 19 Litern pro Kopf gesprochen. Alkohol ist in Russland vor allem ein Problem der Männer. Dafür spricht auch der extreme Unterschied von 13 bis 14 Jahren zwischen der Lebenserwartung von Männern (58,9 Jahre) und der von Frauen (72,3 Jahre). Ende


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